Er scheucht mich auf die Beine, um an der Couch herumzuwerken. Er zieht ein Bett aus und richtet die Decke und ein Kissen.
»Nun komm. Komm schon, komm! Ich nicht beißen, versprochen. Nur Bettwanzen beißen. Ich sie für dich vertreiben.«
Die Zahnlücke strahlt mich an.
»Kann ich noch ein bisschen aufbleiben? Ich bin noch nicht müde.«
Er zuckt mit den Schultern. »Ist okay. Bleib wach, bleib wach. Kannst Rufus streicheln. Er ist ein gutes Tier.«
»Das mache ich.«
Ich setze mich neben dem ausgestopften Kater auf den Boden und streiche über den borstigen, starren Kopf. Jiri schlüpft aus Hemd und Hose und legt sich in Unterwäsche ins Bett. Es dauert nicht lange, da ist er eingeschlafen.
Geräuschlos ziehe ich die Schere aus meiner Hosentasche hervor. Ein Stich in den Hals. Blutig, aber effizient. Es würde schnell gehen. Aber nein. Er war gut zu mir, als niemand mich haben wollte. Als sie alle an mir vorbeigelaufen sind, lachend, telefonierend, gleichgültig. Auch er ist ein Geist des Bahnhofs, ein stiller Beobachter, so unsichtbar wie traurig. Wir stehen auf derselben Seite.
Ich stecke die Schere weg und durchsuche den Dachboden nach allem, was ich brauche. Bargeld. Er bewahrt es dort auf, wo die andere Schere lag, in der Lade. Damit werde ich für eine Weile auskommen. Proviant. Ich finde Knäckebrot, Käse und ein paar Flaschen Mineralwasser. Das alles verstaue ich in dem Rucksack, der hinter der Couch lehnt, zusammen mit Geists Mantel und meinen restlichen Sachen. Als Letztes Waffen. Die Schere und ein Taschenmesser, Feuerzeuge und einen Hammer. Ich weiß, wie man den benutzt. Und was er anrichten kann. Mir hat ein Hammer einmal das Licht ausgeblasen. In Sekundenschnelle nur noch Brei im Kopf. Ich schultere den Rucksack und schalte die Lampe hinter mir aus.
»Leb wohl, mein Freund.«
Jiri lächelt im Schlaf, als träumte er von früher. Glückliche Erinnerungen müssen das sein. Die Fotos an der Wand. Fragmente, Vergangenheit, aber real. Nichts ist unscharf an diesen Bildern. Für mich gibt es nur die Bilder in meinem Kopf. Das Haus auf der Lichtung. Meine Mutter, die lacht. Sharks Fratze und mein Herz in seiner Hand. Sie treiben mich voran, gönnen mir keine Ruhe.
Ich beginne zu laufen. Ich muss einen Zug erwischen.
9
Es geht ihr gut. Sie hat ein Haus, einen Mann und einen Sohn. Die Tage sind ruhig, und die Nächte sind es auch. Sie sieht oft aus dem Fenster. Sieht zu, wie der Wind sich in den Bäumen fängt. Wie Sonnenstrahlen über die Eisfelder tanzen. Wie alles einfach nur wunder-, wunderschön ist.
Auch die Geräusche sind schön. Das Knistern des Kamins. Diese selige, seltene Stille. Am meisten mag sie es, wenn der Junge mit dem Ball durch die Gänge tollt. Er hat dunkles Haar und dunkle Augen, er kommt nach seinem Vater, aber er hat auch etwas von ihr, zumindest glaubt sie das, irgendwo in diesem Kind muss es etwas geben, das von ihr kommt und nicht von ihm.
Sie ist froh. Sie ist dankbar. Dass sie jeden Tag in diesem wunderschönen Bett aufwachen darf. Mit diesem wunderschönen Jungen an ihrer Seite. Da ist es gar nicht so schlimm, wenn der Sturm die Landschaft verwischt und ihre Blicke aus dem Fenster im Nichts enden. Sie ist froh, hier zu sein. Sie ist dankbar, dass ihr Mann sie so liebt.
»Warum ich?«, fragt sie ihn manchmal, wenn er neben ihr liegt. Warum hat er sich ausgerechnet für sie entschieden? Es gab doch so viele. So viele Möglichkeiten.
»Weil du etwas Besonderes bist. Weil du die Schönste von allen warst.«
Er könnte das tausendmal sagen. Sie glaubt es nicht. Sie versteht es nicht. Und doch ist sie hier. Er hat sie ausgewählt, und das ist alles, was zählt.
»Ich würde so gern ans Meer fahren«, sagt sie. »Können wir das? Können wir ans Meer fahren?«
»Was willst du denn am Meer? Hier ist es viel schöner.«
»Manchmal ist es einsam.«
»Möchtest du, dass ich mir mehr Zeit für dich nehme?«
Sie schüttelt den Kopf. Ihr Mann ist sehr beschäftigt. Er hat Pflichten, das versteht sie. Er sorgt für sie, und das ist ihr genug.
»Du bist meine Königin«, flüstert er ihr zu. »Wünsch dir etwas, und es wird in Erfüllung gehen.«
»Ich habe schon alles, was ich jemals wollte«, antwortet sie.
10
Die Landschaft verändert sich. Es wird flacher. Heller. Vertrauter.
Wir haben die Grenze Richtung Westen mittlerweile passiert. Ich lege die Hand an die Fensterscheibe, weil ich mir einbilde, die Veränderung durch das Glas hindurch spüren zu können. Ich möchte es berühren, das vertraute Land, die Felder und Äcker, die Häuser, die Straßen. Alles wirkt so unverändert. Als wäre ich nie weg gewesen. Als wäre das alles nie passiert.
Die Frau, die mit mir im Abteil sitzt, sieht von ihrem Buch auf. »Ist alles in Ordnung?«, möchte sie wissen. »Sie weinen ja.«
Ganz plötzlich muss ich lächeln. Mir blutet das Herz vor Freude. Diese öde, verschneite Feldlandschaft ist das Schönste, was ich seit Langem gesehen habe.
Meine Sitznachbarin wirkt verunsichert. Sie entschließt sich, wieder zurück ins Buch zu schauen, und nach ein paar Atemzügen setzt sie sich auf die andere Seite des Abteils. Ich nehme es ihr nicht übel. Meine Kleidung ist schmuddelig, und ich bräuchte dringend eine Dusche. Bestimmt hält sie mich für eine Herumtreiberin, die das Zugticket entweder gestohlen oder mit unlauteren Methoden erworben hat. Wie sollte sie ahnen, dass ich einmal richtig normal war? Ein ganz normales Mädchen mit ganz normalen Träumen. Ich könnte ihr von meiner Mutter, dem Haus und den vielen Bediensteten erzählen. Davon, wie hübsch ich einmal war. Die Unschuld strahlte mir aus den Augen. Darum nannten sie mich auch Madonna. Weil ich so rein aussah, dass es der allergrößte Triumph sein musste, mich zu beflecken.
Aber was interessiert es eine solche Frau, warum ich aussehe wie ein Vagabund? Sie kennt die Hölle dort draußen nicht. Niemand weiß, was in der Ferne lauert. Soll sie weiter in ihrem Buch lesen. Soll sie denken, ich sei Dreck. Von Dreck hält man sich wenigstens fern.
Jemand tippt mir auf die Schulter, und ich schrecke auf.
»Endstation«, sagt der Schaffner. Und: »Vergessen Sie Ihr Gepäck nicht«, als ich aufspringe wie vom Blitz getroffen.
Ich muss während der Fahrt eingeschlafen sein. Die Frau mit dem Buch ist weg. Mit dem schweren Rucksack verlasse ich den Zug. Menschen tummeln sich auf dem Bahnsteig. Es ist laut. Eng. Ich setze mich auf eine Bank und starre vor mir auf den Boden. Betrachte meine Füße in den dicken Stiefeln, die in den letzten Wochen so weit gewandert sind. Was, wenn das alles nur ein Traum ist? Wenn ich in der Hütte am See bloß eingeschlafen bin und in Wahrheit immer noch in Geists Armen liege? Gebrochen, ausgeliefert, eingesperrt. Aber die Menschen sind real. Die Luft in meinen Lungen ist real. Ich bin tatsächlich hier, und in meiner Brust breitet sich Panik aus.
Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll. Ich bin allein. Niemand ist hier, der mich versorgt. Der mir morgens Frühstück bringt und mir beim Waschen hilft. Der mir die Haare kämmt, die Wunden versorgt, der mir Schlafmittel gibt, damit die Angst mich nicht länger wach hält. Ich weiß nicht, wie ich ohne all das überleben soll. Ich fühle mich schutzlos und verwirrt. Vielleicht sollte ich einfach den vielen Menschen folgen. Ich stehe auf und begebe mich in die Bahnhofshalle. Der Lärm ist hier kaum zu ertragen. Polternde Schritte, Sprachdurchsagen, Tausende Stimmen wild durcheinander. Aber es tut gut, das alles zu hören, das Leben, die Normalität, die vertraute Sprache. Ich erinnere mich daran, dass ich Geld wechseln muss – mit Jiris Scheinen kann ich hier nicht bezahlen. Es gibt eine kleine Bankfiliale im Bahnhofsgebäude, ich muss nicht lange warten. Die Dame hinter dem Schalter drückt mir für Jiris Ersparnisse knappe zweitausend Euro in die Hand. Rasch verstaue ich das Geld in meinem Rucksack, eile durch die Halle und komme raus auf die Straße. Es dämmert. Taxis stehen am Straßenrand und warten auf