Ich bin der Sturm. Michaela Kastel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michaela Kastel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960416500
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explodiert wäre. Von innen nach außen gestülpt.

      Sie kam kurz nach mir hier an. Die blonde, schmächtige Sunny mit der Stupsnase und den Sommersprossen. Von Anfang an wohnte sie nebenan in Zelle Nummer 14. Und jetzt ist sie tot. Ein Skelett, ein Häufchen Asche. Gelebt wie ein Tier, gestorben wie ein Tier. Wir alle sind Vieh, das hilflos auf seine Schlachtung wartet.

      In dem Haus auf der Lichtung gab es auch Tiere. Hunde, ganz viele davon. Wir wohnten im ersten Stock, meine Mutter und ich. Das Haus hatte viele Stockwerke. Ich liebte es, von Flur zu Flur zu laufen, von Raum zu Raum, treppauf, treppab. Manchmal, wenn ich zu laut und ungestüm war, wurde mein Vater wütend und schickte mich auf mein Zimmer, wo ich bleiben musste, bis es Abend wurde.

      Er war kein fröhlicher Mann. Er hatte diesen Grimm in den Augen, wie eine uralte Last, die ihn einfach nicht losließ. Nur selten war er zu Hause. Er war Geschäftsmann, meine Mutter nannte ihn »König«. Darum dachte ich, dass sie eine Königin sei und ich eine Prinzessin.

      Ich habe vergessen, wie er aussieht. Habe vergessen, wie seine Stimme klingt, wie es sich anfühlt, von ihm berührt zu werden. Der Gedanke an ihn ist wie ein Loch in einem alten, verstaubten Familienporträt – wo sein Gesicht war, ist bloß noch ein großer schwarzer Fleck. Aufgefressen von den Ratten. Von den Jahren.

      In dem Haus auf der Lichtung wohnten nicht bloß wir. Es gab auch Angestellte, Köche, Gärtner, Heimwerker, sogar einen eigenen Portier. Sie waren alle immer sehr freundlich zu mir. Manchmal, wenn mich die Teufel in Ruhe lassen, liege ich nachts in meiner Zelle und stehe in Gedanken wieder auf dieser Lichtung. Ich rieche den frisch gefallenen Schnee. Ich höre die Hunde bellen. Hier haben wir ebenfalls Hunde. Höllenhunde mit drei Köpfen, die das Tor bewachen. Sie sind so furchteinflößend, dass selbst einige der Teufel vor ihnen zurückschrecken, deshalb werden sie während der Besuchszeiten in einen Zwinger gesperrt. Hinaus dürfen sie bloß, wenn jemand ausbüxt. Dann jagen sie uns. Es dauert nicht sehr lange. Bee hat es versucht, irgendwann letztes Jahr. Sie rannte los und blieb nicht mehr stehen. Bis die Hunde sie einholten.

      Sie erlauben uns, das Abendessen gemeinsam einzunehmen. Wir müssen aufessen und uns ruhig verhalten, aber wir dürfen auch reden. Eine kleine Streicheleinheit für das verstörte Vieh, bevor die Stromschläge weitergehen. Fairy sitzt neben mir. Ihre knochigen Knie schlagen nervös aneinander, während sie angewidert auf ihr Essen starrt.

      »Jetzt mach schon«, sage ich leise. »Trödel nicht so rum. Bevor sie was merken.«

      »Es geht nicht. Ich muss mich übergeben.«

      »Du musst aufessen. Sonst zwingen sie dich.«

      »Was ist mit der Frau aus Zelle 14 passiert?«

      »Darüber sollten wir nicht reden.«

      »Ich … ich kannte nicht mal ihren Namen. Ich habe sie bloß ein paarmal gesehen.«

      »Es ist mein Ernst, Fairy. Sei still oder rede über Blumenwiesen.«

      Sie greift nach der Gabel und stochert in ihrem klein geschnittenen Fleisch. Sie schneiden uns immer das Essen vor. Messer sind nicht erlaubt. Auch mit Gabeln kann man töten, aber nicht sehr effizient. Summer kann davon ein Liedchen singen. Summer, die längst ein Teil des Gebäudes geworden ist. Eingemauert, zu Zement gemahlen, irgendwo in den Gewölben. Nachts hört man sie wimmern. Sie sagen, es sei der Wind. Ich glaube, es ist Summer. Das halb tote Mädchen in den Mauern. Bald ganz tot.

      »Woher kommst du?«, fragt Fairy.

      »Weiß nicht mehr.«

      »Du weißt gar nichts mehr? Keine einzige Erinnerung?«

      »Ich lebte mal in einem Haus. Irgendwo im Wald. Es war schön und ruhig. Mehr weiß ich nicht.«

      »Ich bin auch am Land aufgewachsen. Ich habe einen großen Bruder. Seit ich denken kann, hat er mich beschützt. Er hat immer auf mich aufgepasst. Wenn mir jemand zu nahe kam, bekam der eins auf die Schnauze. Weißt du, irgendwie hoffe ich die ganze Zeit, dass er kommt und mich hier rausholt. Dass er einfach zur Tür hereinstürmt und jeden in diesem Gebäude umbringt. Und dann bringt er mich nach Hause.«

      Ihr Blick streift mich von der Seite, ich spüre es, aber ich schaue sie nicht an. Bloß nicht zu sehr an sie gewöhnen. Gesichter kommen und gehen.

      »Weißt du überhaupt, was das ist, Heimat? Weißt du noch, wie es ist, nicht sterben zu wollen?«

      »Ja«, antworte ich leise. »Das weiß ich noch.«

      Sie legt die Gabel weg. Ihre Augen schimmern.

      »Iss«, fordere ich sie auf.

      »Was ist mit der Frau aus Zelle 14 passiert?«, fragt sie noch einmal.

      »Was glaubst du denn, was passiert ist?«

      »Das Schwein hat sie umgebracht.«

      Ich esse weiter.

      Plötzlich spüre ich ihre Hand auf meinem Arm. Ihre klammen, eisigen Finger, die sich so sehr nach der Freiheit sehnen. »Hast du überhaupt keine Angst? Uns könnte jederzeit dasselbe passieren!«

      »Nicht, wenn wir artig sind.«

      »Es muss doch einen Weg geben … Wir müssen versuchen, hier irgendwie rauszukommen!«

      »Iss weiter. Sie hören dich.«

      »Die Türen zu den einzelnen Gängen sind nicht verschlossen. Ich weiß es, ich habe aufgepasst! Niemand braucht hier für irgendwas einen Schlüssel.«

      »Und wenn schon. Sie würden dich kriegen.«

      »Und wenn nicht? Wenn wir einfach schneller sind als die?« Sie wartet. Ich schaue sie nicht an. »Wie alt bist du?«, flüstert sie.

      »Weiß nicht mehr.«

      »Wie ist dein richtiger Name?«

      »Weiß nicht mehr.«

      Ihre Hand zieht sich zurück. Sie beobachten uns. Behalten unser kleines Gespräch im Auge. Wir müssen jetzt weiteressen. Bis der Teller leer ist, dann erst dürfen wir gehen. Zurück in unsere Zellen, wo wir hingehören.

      Als sie durch die Reihen marschieren, um die Teller zu überprüfen, wird Fairy blass. Sie ist immer noch nicht fertig. Aber die Zeit ist abgelaufen. Ich halte den Blick auf meine Knie gerichtet, selbst dann, als sie Fairy befehlen, aufzustehen. In der Stille wird ein Stuhl zurückgeschoben. Fairy zittert, sie fleht. Bitte, bitte. Bitte nicht. Vergebens. Sie bringen sie aus dem Speisesaal. Ich weiß, wohin sie jetzt kommt. In den Raum mit den Propellern. Dort stecken sie ihr den Trichter in den Hals. Und dann kommen sie mit dem Schlauch. Die Teller müssen leer gegessen werden. So lautet die Regel.

      Fairy ist dumm. Eine Rebellin, ein Störenfried, bald wird sie tot sein, wenn sie so weitermacht, ich weiß es. Und wenn schon. In zwei Tagen ist das nicht mehr mein Problem. In zwei Tagen werde ich von hier verschwunden sein. Durch die offenen Türen, wie Fairy ganz richtig bemerkt hat. Ich werde einen Komplizen haben. Jemand, dem sie vertrauen. Sie werden Lügen erzählen, um das aufgebrachte Vieh unter Kontrolle zu halten. Niemals darf herauskommen, dass es einen Weg nach draußen gibt. Einen Weg in die Freiheit. Zurück nach Hause.

      5

      Nachts um drei kommen die Dämonen raus, heißt es. Zur dunkelsten Stunde, ohne einen Laut. Uhren hören auf zu ticken. Die Welt dreht sich nicht mehr. Nachts um drei sind die Schreie sonst am lautesten.

      Doch heute Nacht ist nichts zu hören. Es ist so still wie damals, in dem Haus, wo ich aufgewachsen bin. Ein Hauch von Frieden hängt in der Luft, der mich die Aufregung und die Angst für kurze Zeit vergessen lässt.

      Meine Zellentür öffnet sich. Eine große, vertraute Gestalt bewegt sich auf mich zu. Die Freude zerreißt mich fast, treibt mich auf die Beine, in seine Arme, die mich mit aller Kraft umschlingen. Er ist tatsächlich gekommen. Er hat sein Wort gehalten.

      »Zieh den an«, sagt er mit gedämpfter Stimme.

      Ich schlüpfe in weite, flauschige Ärmel, kurz darauf stülpt er mir