Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
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© 2020 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv shutterstock.com/Sergey Nivens
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Lektorat: Dr. Marion Heister
ISBN 978-3-96041-650-0
Thriller
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die
Literaturagentur Lesen & Hören, Berlin.
Für die ersten zwölf Tage im Jahr
1
Ich sehe alles vor mir, ganz genau. Sein Gesicht, er schaut mich an, er steht vor mir, berührt mich fast. Ich sehne mich danach, von ihm berührt zu werden. Ich will seine Finger spüren, wie sie nach mir tasten, zaghaft, verschämt, weil er sich nicht sicher ist, ob ich das will, obwohl ich mir sicher bin, dass man es sehen kann. Man muss mir ansehen, was ich für ihn empfinde. Ich spüre, wie er näher kommt, blicke in seine Augen, die mir sagen, wie schön ich bin. Wie sehr er mich berühren möchte, mich küssen, aber er traut sich nicht. Er traut sich einfach nicht.
Und so stehen wir nur da. Stehen da und schauen uns an. Es ist Folter, und gleichzeitig ist es magisch. Dieses scheue Herantasten, die stummen Fragen, die wie ein Fieber unter der Haut brennen. Ich sehe seine Augen und verliere mich darin, seine Augen in so vielen Farben. Bei Dämmerung, im Schnee, bei Regen, im Herbst, den er so geliebt hat. Jetzt ist es Winter, und alles ist schwarz. Hier drin ist es immer Winter. Immer kalt und dunkel, eine Betonwüste, ein Kerker, manchmal für mich allein, aber heute nicht. Heute bin ich nicht allein. Er ist bei mir, und ich halte mich an ihm fest. Wenn ich die Augen schließe, kann ich beinahe seinen Herzschlag spüren. Sein Herz, wie es schlägt und schlägt und schlägt. Nur für mich. Es verprügelt mich, dieses Herz. Es drischt auf mich ein, drückt mich zu Boden, meinen Kopf gegen den harten Stein, bis der Schmerz die Dunkelheit vertreibt und alles in kochendem Rot versinkt. Ein hartnäckiges Rot ist das. Es spritzt an die Wände, tropft von der Decke, auf meine Stirn, die erneut gegen den Steinboden geschleudert wird.
»Mach die Augen auf!«, brüllt er. Der Teufel, der mit mir im Kerker ist. Der das Licht von draußen mitgebracht hat und die Wände mit dem Rot besudelt. »Hast du gehört? Du sollst mich ansehen! Du Scheißschlampe, sieh mich an!«
Der Herbst, seine Augen, das Fieber, der Kuss. Nein, es war gar kein Kuss. Bloß ein Hauch. Ich war dreizehn Jahre alt. Ein Mädchen noch, aber ich wollte ihn heiraten. Für den Rest meines Lebens wollte ich ihm gehören.
Der Griff um meinen Nacken lockert sich. Schritte entfernen sich. Eine Tür wird auf- und wieder zugemacht.
»Die ist hinüber«, brummt die Stimme von draußen.
»Sollen wir sie munter machen?«
»Ist nicht nötig.«
»Es geht ganz schnell. Nur ein kleiner Nadelstich.«
»Ich will eine andere.«
»Sehr wohl.«
Eine Wand voller Blut, meinem Blut. Schmutziger, feuchter Boden, auf dem sich Speichel und andere Flüssigkeiten sammeln. Das Sehnen in mir zerreißt mich fast, schneidet mich in Stücke. Ich konzentriere mich auf das, was real ist, auf die Luft, die Wand, das Blut, die Tür. Die Tür, die sich nicht öffnen lässt, nur von außen. Durch die immer neue Teufel kommen. Es gibt sie da draußen in Scharen. Sie plaudern und lachen miteinander, eine lustige gehörnte Truppe, alle mit diesem Wahn in den Augen, dieser Bosheit. Sie kommen mit Messern, Peitschen, Glasflaschen, ihre Phantasie ist grenzenlos. Manche bleiben nur ganz kurz. Andere die ganze Nacht. Hinterher höre ich sie flüstern. Dass sie wiederkommen werden. Schon ganz bald. Die Teufel stehen zu ihrem Wort.
Ich lege mich hin, zu einer Kugel gerollt kauere ich in der Ecke, versuche die Bilder wieder zurückzuholen, die Erinnerungen an ihn, an uns, an den Kuss, den es nie gab, zumindest nicht so. Dann begreife ich, dass es niemals wieder so sein wird, niemals wieder dreizehn, niemals wieder verliebt, niemals wieder frei. Er hat dafür gesorgt, dass dieses Niemals zu meiner Welt wird. Eine Welt aus Schlössern und Ketten. Eine Welt im Dunkel. Die Hölle, es gibt sie. Das hier ist die Hölle.
Ich höre mich atmen. Spüre, wie die Bilder allmählich verschwinden, alle bis auf eines: sein Gesicht in der Dunkelheit. Er steht da und schaut mich an. »Madonna«, sagt er. Aber so heiße ich nicht. Ich bin namenlos, ein Schatten, eine Vorstellung in den Köpfen anderer. Den Namen, den mir einst meine Eltern gaben, weiß ich nicht mehr. Seinen schon.
Ich kenne seinen Namen. Auch wenn ich sonst nichts mehr weiß. Wenn ich sonst alles vergessen habe, was einmal wichtig war. An ihn kann ich mich erinnern. An alles, was er mir angetan hat.
2
Meine Zelle hat kein Fenster. Und auch kein Bett. Wenn am Morgen die Tür entriegelt wird und die blinde alte Frau mein Frühstück bringt, liege ich auf dem Boden in der Ecke. Manchmal habe ich mich über Nacht wieder angezogen, manchmal auch nicht. Es kommt auf meinen Zustand an. Heute hat die alte Frau, die wir Greta nennen, obwohl auch sie bestimmt nicht so heißt, viel zu tun. Sie stellt das Tablett neben der Tür ab und kommt zu mir in die Ecke, weil sie gehört hat, wie ich wimmere. Ihre warmen, schwieligen Hände ertasten meinen Arm, den ich immer noch über mein Gesicht gezogen habe. Mit dem ich versucht habe, mich zu schützen.
»Tut weh?«, fragt sie.
»Ja.«
»Nicht wegrutschen. Stillhalten. Ich das richten.«
Ihre Augen sind trüb und schauen geisterhaft an mir vorbei. Ich weiß nicht, was sie alles wahrnimmt. Wie viel davon sie hört oder riecht. Schande hat einen Geruch, und sie hat auch einen Klang: dieses Tropfen, das stinkende Tropfen von der Decke, das niemals aufhört. Vielleicht war Greta nicht immer blind. Vielleicht hat sie einfach nur zu lange hingesehen. In die Schatten, in das Grauen.
Sie hilft mir, mich anzuziehen, verfüttert mir löffelweise den warmen, viel zu süßen Haferflockenbrei und danach die Eier und das Vollkornbrot. Scheußlich schmeckt das alles. Mein Magen rebelliert. Aber ich muss aufessen. Schließlich muss ich gesund bleiben, muss schön sein, schön für die Teufel, denn die Teufel sind wählerisch. Die Teufel lehnen uns schon mal ab, wenn wir nicht genauso rein und unbenutzt aussehen wie beim letzten Mal.
Es ist Knochenarbeit. Mich wieder hinzukriegen, die Schnitte zu verarzten, das Blut, die Prellungen, die Augen. In den Augen sammelt sich das Grauen. Die Teufel mögen es nicht, wenn man sie ansieht, als wären sie nicht normal. Wenn man auf die Hörner starrt, den Schweif, die Hufe. Sie wären gern menschlich wie wir, deshalb tun sie das alles. Sie häuten uns und ziehen uns untertags als Kostüm über. Laufen fröhlich damit durch die Gegend. Aber die Kostüme halten nicht lange, und so kommen sie immer wieder, wählen aus, schlagen zu und beginnen zu nähen.
Danach muss alles in mir wieder gerichtet werden. Zurechtgerückt und glatt poliert, eingerenkt und bandagiert. Nach dem Frühstück bringt Greta mich in den Duschraum. Hier gibt es große vergitterte Fenster sowie große vergitterte Abflüsse. Dunkle Löcher, die das Blut aufsaugen wie der Boden in meiner Zelle. Greta schrubbt. Sie kennt jeden Millimeter meines Körpers. Wie lange sie schon hier ist, weiß ich nicht. Sie spricht nicht viel. Wir alle schonen unsere Stimme, weil wir