»Jedenfalls ist er grad und aufrecht hineingangen« Kronprinz Rudolf und Loschek in der Anekdote
Dass ein Diener am Tisch des Thronfolgers essen durfte und dass er überhaupt als menschliches Wesen betrachtet wurde, war in der damaligen Zeit und in diesen Kreisen außergewöhnlich. Mit Personal wurde im Allgemeinen in sehr rüdem Ton umgegangen, oder es wurde überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Wenig überraschend, dass Loschek den Kronprinzen selbst nach den schrecklichen Ereignissen von Mayerling immer noch bewundert und verehrt hat.
Was nun folgte, verschweigt das Extrablatt: Bratfisch, nur der damals üblichen Kurrentschrift mächtig, konnte Rudolfs Lateinbuchstaben nicht entziffern und rief diesem zu: »So a Schrift kann doch a anständiger Mensch net lesen!« Der Kronprinz lachte herzhaft über diesen Temperamentsausbruch, fiel dem 42 Jahre alten Kutscher um den Hals, trug ihm das vertrauliche Du an und ernannte ihn auf der Stelle zu seinem Leibfiaker.
Als Kronprinz Rudolf eines Abends das Theater in Ischl betrat, fragte er sogleich den Logenschließer: »Ist Seine Majestät schon da?«
Der Angesprochene verbeugte sich umständlich und antwortete dann unter gröblichster Außerachtlassung jeglichen Hofzeremoniells: »Jawohl, der Herr Papa ist schon da!«
Empört über diese Respektlosigkeit, fragte der Kronprinz den Logenschließer: »Er ist wohl betrunken?«
Worauf dieser erwiderte: »Davon habe ich eigentlich nichts bemerkt. Jedenfalls ist er ganz schön grad und aufrecht hineingangen.«
»In einem Strudel der Leidenschaft« Wie ich zu Prinzessin Louises Scheidungsdokumenten kam
Auch der im vorigen Kapitel genannte Prinz Philipp von Coburg war in Mayerling, als Johann Loschek die Leichen der Baronesse Mary Vetsera und des Kronprinzen Rudolf entdeckte. Coburg war nicht nur Rudolfs Schwager, sondern auch einer seiner engsten Vertrauten.
Prinz Philipp, Chef des österreichischen Zweigs der Familie Coburg, 1844–1921
Im Herbst 2017 wurden mir Dokumente zugespielt, die zeigen, dass – ähnlich wie Kronprinz Rudolf und Stephanie – auch Prinz Philipp und dessen Frau Louise gewaltige Eheprobleme hatten. In ihrem Scheidungsprozess ging es nicht nur um eheliche Untreue, sondern auch um Dokumentenfälschung, Betrug und andere Delikte, die die Betroffenen – und das war einzigartig für Angehörige des Kaiserhauses – ins Gefängnis und in psychiatrische Anstalten brachten. Dass es so weit kommen konnte, führten Prinzessin Louises Ärzte nicht zuletzt auf den Tod ihres Schwagers Kronprinz Rudolf in Mayerling zurück.
Prinzessin Louise von Coburg, Tochter des Königs von Belgien, 1858–1924
Rudolfs Frau Stephanie war die Tochter des belgischen Königs Leopold II., und sie hatte eine um sechs Jahre ältere Schwester namens Louise. Diese heiratete, als sie 17 Jahre alt war, den Prinzen Philipp von Sachsen-Coburg und Gotha, mit dem sie in dessen Palais an der Wiener Seilerstätte – heute eines der vornehmsten Hotels der Stadt – residierte. Dass ihre Ehe in die Brüche ging, ist bekannt. Neu sind jedoch die bisher unveröffentlichten Scheidungsdokumente des Paares, die brisante Details einer Tragödie offenbaren.
Führten zunächst eine scheinbar glückliche Ehe: Louise und Philipp aus der Wiener Linie des Hauses Sachsen-Coburg und Gotha
Louise von Belgien und Prinz Philipp von Coburg heirateten am 4. Februar 1875 in Brüssel und führten zunächst eine nach außen hin glückliche Ehe, der zwei Kinder entsprangen. Dass der um 14 Jahre ältere Prinz zahlreiche Affären hatte, galt als »normal«, doch als bekannt wurde, dass auch Louise ein allzu freizügiges Leben führte, war bei Hof der Teufel los.
Bei einer Fiakerfahrt in der Prater-Hauptallee
Anfangs stand die Prinzessin, die von Zeitgenossen als »mondänste Frau des Wiener Hofes« beschrieben wurde, ihrem Schwager, Kronprinz Rudolf, auffallend nahe. Sie selbst schildert ihre Zuneigung dem Kaisersohn gegenüber in ihren Memoiren mit den ziemlich eindeutigen Worten, er sei »mehr als schön, verführerisch, mittelgroß und sehr proportioniert« gewesen. »Man dachte bei ihm an ein Vollblutpferd; denn von ihm hatte er auch das Wesentliche …« Dann hatte sie Verhältnisse mit zwei Adjutanten ihres Mannes, ehe sie bei einer Fiakerfahrt in der Hauptallee des Wiener Praters den Ulanenoberleutnant Géza von Mattachich kennenlernte und sich in ihn verliebte. Mit dieser Begegnung beginnt das Drama im Haus Coburg.
Heinrich Kunreuther, der in Gotha amtierende Rechtsanwalt des Prinzen Philipp, beschreibt in der mir zugespielten »Ehescheidungsklage«1 den Rosenkrieg bei Coburgs: Im Mai 1895 traf Louise den k. u. k. Oberleutnant Géza von Mattachich, der ihr »von heißer Liebe durchglüht« bald nach Abbazia folgte, wo er schließlich »das Ziel seiner Liebeswünsche erreichte«.
Géza von Mattachich, k. u. k. Oberleutnant, 1867–1923
Die verheiratete Prinzessin und der Offizier wurden ein Paar, das – auf Kosten von Louises Ehemann – ständig auf Reisen war und, ausgestattet mit Reitpferden und Dienerschaft, auf großem Fuß lebte. Um an ihrer Seite »unverdächtig« auftreten zu können, wurde Herr Mattachich als Stallmeister der Prinzessin Louise angestellt. Prinz Coburg überwies seiner Frau im Lauf der Jahre mehr als 1 Million Kronen2, und das, obwohl er laut seinem Anwalt wusste, »dass Herr von Mattachich in steter Gesellschaft seiner Gemahlin sich befinde«.
Duell Ehemann gegen Liebhaber
Als die Beziehung seiner Frau zu Mattachich drei Jahre andauerte, forderte der Prinz seinen Nebenbuhler – wie es die Standesehre verlangte – zum Duell heraus. Dabei wurde die Sehne von Coburgs rechter Hand durchtrennt,