Peter Altenberg schlägt die Zeitung zu. Der »standhafteste Bekenner des nächtlichen Wien« stirbt nicht im Kaffeehaus, wie er es sich vermutlich erträumt hat.
Ohne Antibiotika hat der Fiebernde keine Chance. Altenberg ist nur noch für wenige Augenblicke bei klarem Bewusstsein. »Nachmittags weilten sein Bruder und Professor Hammerschlag an seinem Krankenbett, die er aber kaum mehr erkannte. In der Nacht trat tiefe Bewußtlosigkeit ein, aus der Peter Altenberg nicht mehr erwachte. Einige Minuten vor 11 Uhr vormittags mußte die behandelnde Ärztin Frau Doktor Weiß den eingetretenen Tod feststellen. Altenberg hat ein Alter von 60 Jahren erreicht.«
Dass eine Ärztin an der Klinik Chvostek tätig war, ist das erstaunliche an der Zeitungsmeldung. Der Internist gilt als entschiedener Gegner des Frauenstudiums. Er lässt weibliche Studierende gewaltsam aus seinen Lehrveranstaltungen vertreiben. Nach dem Krieg hat sich Chvostek der Bewegung des deutschen Generals Ludendorff angeschlossen und bekennt sich offen zu seinem Antisemitismus. Die III. Medizinische Klinik wird schon bald als »Hakenkreuzlerklinik« bekannt.
Ausgerechnet dort stirbt der als Richard Engländer geborene Altenberg, Sohn eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns. Seine Reifeprüfung hatte Altenberg am Akademischen Gymnasium abgelegt und anschließend an der Universität Wien inskribiert, wo er – wenn auch eher unregelmäßig – juridische und später auch medizinische Vorlesungen besuchte. Altenberg wurde zum klassischen Studienabbrecher, versuchte in Stuttgart eine Lehre als Buchhändler abzuschließen, eher er in Wien seine wahre Profession erkannte.
Altenberg wird Dauergast der Innenstadt-Kaffeehäuser und entzückt junge, sehr junge, eigentlich viele zu junge Damen mit seiner exzentrischen Lebensführung. Diese – mit Konsequenz betrieben – macht ihn bald zu einer legendären Figur, nicht von allen geliebt. Die Illustrierte Kronen Zeitung beschreibt den Aphoristiker aphoristisch so: »Als es in Wien noch ein Nachtleben gab, war Peter Altenberg einer der standhaftesten Bekenner des nächtlichen Wien. Er war in allen Cafés, Bars und Tanzlokalen zu Hause, saß dort mit seinen Freunden, denen er tiefe und groteske Weisheiten über Leben und Liebe, Welt und Weib mit seiner zitternd beschwörenden Stimme zurief.« So wurde Peter Altenberg zu einer lokalen Weltberühmtheit. Nach seiner Lieblingsbeschäftigung gefragt, antwortet er: »Den Sommer in Gmunden verbringen und den See anstarren vom Morgen bis zum Abend.« Und als seine Adresse gab er an: »Wien, 1. Bezirk, Herrengasse, Café Central.«
Der Dichter und Feuilletonist Raoul Auernheimer, zur damaligen Zeit der größte seines Faches, widmet dem Prototypen des Kaffeehausliteraten einen augenzwinkernden, aber liebevollen Nachruf: »In einer Zeit allgemeinster Verarmung, die nachgerade auch auf das geistige Gebiet überzugreifen beginnt, wird es nicht allzu vielen aufgefallen sein, daß Wien seit ein paar Tagen um einen Dichter und eine wunderliche Figur ärmer geworden ist. Dennoch werden die Wiener und nicht nur jene begeisterten Jünger eines neuen Kaffeehausglaubens, die in Peter Altenberg den Dichter zu sehen und zu verbünden gewohnt waren, diese stadtbekannte Gestalt nicht ohne leise Wehmut aus unserem Stadtbild verschwinden sehen. Es gibt in der Literatur auch so etwas wie ein Bürgerrecht, das, wie jedes andere, durch längere Ansässigkeit erworben wird. Peter Altenberg besaß es, trotz seiner Unbürgerlichkeit, in den letzten Jahren. (…) Man hatte sich daran gewöhnt, von Zeit zu Zeit ein neues Buch von ihm, das immer dasselbe war, in den Schaufenstern der Buchhandlungen ausliegen zu sehen.«
Egon Friedell beschreibt in der schöngeistigen Monatszeitung Moderne Welt den Kosmos von Peter Altenberg: »Er hat in seinen kleinen, hingetupften Bildchen eine Art Topographie der heutigen Gesellschaft entworfen, an der man sich später einmal übersichtlicher und genauer orientieren wird als an den dickleibigen Zeitromanen. Er zeichnete gewissermaßen eine Landkarte der Seelenverfassung um die Jahrhundertwende. Aus allen diesen Pamphleten, die er gegen die bürgerliche Kultur und Moral schleuderte, erwächst ihm, weil er ein Dichter ist, eine rührende Verklärung eben dieser Welt, die er vernichten wollte. Dichter können eben nicht polemisieren, unter ihrer Berührung wird, oft ganz gegen ihren Willen, alles schöner, als es vorher gewesen ist.«
Karl Kraus, wohl auf der anderen Seite des literarischen Spektrums, hält am Grabe Altenbergs die Totenrede. Sie ist zwar voll Pathos, geistreich natürlich, aber doch deutlich weniger augenzwinkernd. »Nun, da Du in das Reich aufgestiegen bist, wohin Dir kein Verkennen folgt, nicht der Mißgunst und nicht der Gefolgschaft, nun hast Du uns zu Bettlern gemacht! Nun ist uns der schmerzhafte Augenblick gekommen, ihnen, den Philistern und seinem Redakteur, sagen zu müssen, dass Du ihnen nicht gehört hast! Daß deine Nachbarschaft, Deine Verkleidung nur der Zufall zeitlicher Umstände war und der Zwang, Dich vor Ihnen zu verstecken. Nun ist der Augenblick da und nun muß es aller Welt gesagt werden: Daß Du, Peter Altenberg, einer der größten Dichter warst, die ihrer Zeit nur geliehen sind.« Und Karl Kraus bedient sich als Schlusswort eines Satzes aus Goethes Drama Götz von Berlichingen: »Edler Mann! Edler Mann! Wehe dem Jahrhundert, das dich von sich stieß! Wehe der Nachkommenschaft, die Dich verkennt!«
Altenberg hätte wahrscheinlich zu Lebzeiten dieses Kraus’sche Pathos mit einem Zucken seines tiefhängenden Schnauzbartes beantwortet. Mit dem Tod beginnt seine Vereinnahmung. Die sozialistische Arbeiter-Zeitung betont, dass die Stadtverwaltung auf Antrag der sozialdemokratischen Mitglieder dem Dichter ein Ehrengrab – und zwar »an der Friedhofsmauer« – genehmigt habe.
So verabschiedet sich Wien – kaum hat die neue Zeit begonnen – von einem Antipoden der alten Zeit, der vor der Zeit gestorben ist. Das Grabkreuz auf dem Zentralfriedhof gestaltet Adolf Loos.
11. Jänner 1919
»Ganz Berlin ist ein brodelnder Hexenkessel«
Die Kämpfe um das Verlagsgebäude Mosse
Der Diplomat und Schriftsteller Harry Graf Kessler erlebt die ersten Tage des neuen Jahres in Berlin. Durch seine Beobachtungen, die er in Tagebucheinträgen der Nachwelt überliefert, wird der Graf zum ersten und wichtigsten Chronisten der Zeitenwende. Schon sein Eintrag vom 31. Dezember 1918 charakterisiert eine Epoche, vielmehr das Ende dieser: »Letzter Tag dieses furchtbaren Jahres. 1918 wird wohl ewig die schrecklichste Jahreszahl der deutschen Geschichte bleiben.« Kessler irrt. Es werden noch viele »schreckliche« Jahre folgen.
Berlin erlebt im Jänner eine versuchte Revolution. Im Festsaal des Preußischen Landtags tagen am 31. Dezember und am Neujahrstag die Anhänger des »Spartakusbundes«. Die unbestrittenen Führungspersönlichkeiten der Bewegung sind Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Sie gründen am ersten Tag des neuen Jahres die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Berlin erlebt Gewalt, Streik, Umsturz, Widerstand. Ein Nebeneinander von bürgerlichem Leben und revolutionärem Aufstand, gefolgt von militärischer Repression prägt die Hauptstadt. Berlin feiert das Ende des Krieges in einem Rausch der Vergnügungssucht, in einer Orgie der Gewalt. Wiens Proletarier sind für eine Revolution zu sehr geschwächt. Wien hungert und friert.
Der Aufstand des kommunistischen Spartakusbundes in Berlin wird nach heftigen Kämpfen von Regierungstruppen blutig niedergeschlagen. Der Fotograf Willi Ruge wird zum geschäftstüchtigen Chronisten der gescheiterten deutschen Revolution.
Die Zeitungsmeldungen aus der Hauptstadt des einstigen Bundesgenossen verunsichern das Wiener Bürgertum, aber es bleibt ungerührt: Revolutionsgarden in München, Bolschewiken in Budapest, Spartakusaufstand in Berlin. Die Welt ist aus den Fugen – scheinbar. Die politischen Konflikte werden zwischen Kommunisten, linken Sozialisten