Not macht gewalttätig. Im Jänner 1919 entlädt sich der Zorn über die schlechte Versorgungslage in gewalttätigen Demonstrationen und Plünderungen. In Oberösterreich kommt es zur Konfrontation der Volkswehr mit den regulären Sicherheitskräften. Volkswehrsoldaten greifen auf Seiten der Demonstranten und Plünderer ein und schießen auf Gendarmen, die ebenfalls von der Schusswaffe Gebrauch machen. Der Zorn von entlassenen Soldaten und anderen richtet sich gegen wohlhabende Bauern, vor allem aber gegen die katholische Kirche. Den Geistlichen wird unterstellt, Lebensmittel zu horten und die Bevölkerung hungern zu lassen. Am 9. und 10. Jänner plündern Demonstranten den Pfarrhof in Steyr und den Gutshof in Gleink. Es kommt zu einer regelrechten Straßenschlacht, ein Arbeiter und ein Gendarm sterben bei der Schießerei. Die Ernährungslage ist nicht nur in den größeren Städten besorgniserregend. In Tirol entsteht ein Engpass durch die neue Brenner-Grenze: Nordtirol ist auf die Einfuhr von Lebensmitteln aus dem Südteil des Landes und aus Bayern angewiesen. Die Nordtiroler Landwirtschaft kann die Menschen nicht ernähren. Aus Südtirol kommen kein Wein, keine Äpfel, kein Gemüse mehr nach Norden, Bayern fällt als Kartoffellieferant aus. Wer sich nicht selbst als Bauer oder als Kleinhäusler versorgen kann, ist auf Hungerrationen angewiesen. Pro Woche erhält jeder Tiroler 14 Dekagramm Reis, 36 Dekagramm Mehl und ein Viertelkilo Brotmehl.
Die Städte hungern. Viele Bauern weigern sich, zu den festgesetzten Preisen Nahrungsmittel zu liefern. Der »Ablieferungswiderstand« provoziert Demonstrationen und auch Plünderungen. Appelle helfen wenig.
Nicht nur in Tirol weigern sich die Bauern, die von den Behörden geforderten Mengen Fleisch und Gemüse zu Fixpreisen in die Städte zu liefern. Auf dem Schwarzmarkt können die Schleichhändler ein Vielfaches der staatlich verordneten Lebensmittelpreise bekommen. Im Winter 1919 erreicht der »Ablieferungswiderstand« der Bauern neue Höhepunkte. Auch in Salzburg ist die Lage nicht viel besser. Anfang Februar erhält die Stadt Salzburg statt der notwendigen 140 Rinder gerade einmal drei Stück Schlachtvieh. Die politische Debatte heizt sich auf. Bauern werden zum Feindbild der städtischen – großteils proletarischen – Bevölkerung. Der Sozialdemokrat Karl Emminger ruft im Salzburger Landtag zur Gewalt gegen die bäuerliche Bevölkerung auf: »Ein Gewaltmensch bin ich nicht, ich könnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Aber wenn wir Menschen finden, welche ihre Brüder verhungern lassen, dann sage ich: Her damit! Knüpfen wir sie einfach auf.«
Zu Gewaltexzessen gegen Menschen kommt es nicht. Doch vier Wochen nach den Plünderungen in Steyr demonstrieren in Linz Hilfsarbeiter, Mägde, Taglöhner und Lehrlinge gegen die geringen Fleischrationen. Ein Hotel und zahlreiche Lebensmittelgeschäfte werden geplündert, Kleiderläden und Juweliere ausgeraubt. Die Demonstranten können nach zwei Tagen nur durch den Einsatz der Volkswehr und der Linzer Polizei gestoppt werden. Es wird sogar das allgemeine Standrecht verhängt. Das Linzer Volksblatt schämt sich der Vorgänge und macht »Aufwiegler« für die Plünderungen verantwortlich: »Die noch immer steigende Not und Teuerung sowie die um sich greifende Arbeitslosigkeit, die zum Teil auch Arbeitsscheu ist, führte gestern in Linz dazu, daß die Menge die Herrschaft über sich verlor und schwere Ausschreitungen und Plünderungen verübte. Wenn man bedenkt, daß die Not der Bevölkerung in Wien und in zahlreichen anderen Gebieten des Staates zweifelsohne größer ist wie in Oberösterreich, dort aber die Ruhe nicht gestört wurde, so möchte man sich wundern, warum gerade Linz der Schauplatz von tief beklagenswerten Ereignissen wurde.«
Die Linzer Blätter spiegeln die Angst des Bürgertums vor revolutionären Umtrieben wider: »Daß die Inhaber der Lebensmittel- und Kleidergeschäfte nicht die Schuld an der Not und den Preisen haben, ist ein Umstand, um den die Menge sich nicht kümmert. Daß übrigens die Not keineswegs die einzige Triebfeder der Plünderungen war, beweist die Tatsache, daß auch ein großes Juweliergeschäft ausgeraubt wurde. Auch das Eindringen der Menge in eine Anzahl von geistlichen Häusern, sogar in den Bischofshof, weist darauf hin, daß gegen diese Häuser, was überdies allseits bekannt ist, eine besondere Aufhetzung betrieben wurde.«
Den Menschen geht es schlecht. Es sind aber nicht die Arbeiter – sofern sie Arbeit haben –, die von der Teuerung am meisten betroffen sind. Milena Jesenská, die tschechische Liebe des Literaten Franz Kafka, kommt 1919 aus Prag nach Wien. Ihr Ehemann Ernst Pollak bleibt in der Hauptstadt der neuen tschechoslowakischen Republik. Milena will sich eine vom Ehemann unabhängige Existenz als Journalistin aufbauen. Für die Prager Zeitung Národní listy beschreibt sie die missliche Lage in der ehemaligen Kaiserstadt: »Der Wiener Arbeiterschaft geht es nicht schlecht, wahrhaftig nicht! Es sei ihr gegönnt. Schlimmer steht es um die Staatsdiener, um die Menschen mit kläglichen Gehältern und zahlreichen Familien, die Postbeamten usw. Hier findet man vielleicht die größte Not, wenn sie auch nicht sichtbar ist, die vielen Witwen, Krüppel, Straßenkehrer, Briefträger und die kleinen Handwerker – diese Familien vegetieren wirklich in Favoriten und in Ottakring in muffigen Zimmern mit Wäscheleinen voller Lumpen. Dort herrscht angstvolle, nackte Not.« Die Tschechin schickt ihre Artikel nach Prag, dort hungern die Menschen nicht. Wien hingegen ist auf Lebensmittelspenden aus dem Ausland angewiesen. Die neutralen Schweizer helfen. Sie schicken mit Genehmigung der alliierten Siegermächte Züge mit Lebensmitteln ins Nachbarland. Schon im Dezember 1918 ist ein erster Hilfszug aus der Westschweiz mit 110 Waggons unter militärischer Sicherung in Wien eingetroffen. Rund 450 Tonnen Lebensmittel werden in städtische Lager gebracht. Im Jänner kommt ein weiterer Hilfszug aus der Schweiz an. Die Hilfe der Eidgenossen für ihre verarmten Nachbarn wird erst später honoriert. In Wien Favoriten erhält ein Gemeindebau des »Roten Wien« den Namen »Zürcher Hof«. In den 1920er-Jahren war der Bau als »GÖC-Hof« bekannt. Im Erdgeschoß wurde das erste Warenhaus der Großeinkaufsgesellschaft für österreichische Consumvereine (GÖC) eröffnet. In diesem hungernden und frierenden Wien treffen Franz Kafka und Milena Jesenská wieder aufeinander. Kafka fordert die Trennung vom Ehemann. Milena ist dazu nicht bereit. Die Journalistin beginnt Kafkas Erzählungen ins Tschechische zu übersetzen. Die junge Frau hat Kafka in einem Prager Café kennengelernt und ist von seiner Intellektualität hingerissen, er von ihrem Temperament und Charme: »Milena ist ein lebendiges Feuer, wie ich es noch nie gesehen habe. Dabei ist sie äußerst zart, mutig, klug und alles wirft sie in das Opfer hinein oder hat es, wenn man will, durch das Opfer erworben.« Die Briefe des Schriftstellers an seine Milena sind literarische Dokumente ihrer stürmischen Beziehung. Ein Jahr lang schickt ihr Kafka regelmäßig »geschriebene Küsse«.
11. Jänner 1919
»Wehe der Nachkommenschaft, die Dich verkennt!«
Peter Altenberg stirbt in seinem Hotelzimmer
Wenn sich Karl Kraus aus der Redaktion der Fackel auf den Wiener Zentralfriedhof bemüht und in der Neuen Freien Presse Feuilletonchef Raoul Auernheimer »unterm Strich« über drei Seiten einen Nachruf schreibt, dann ist ein Großer verstorben.
Die Illustrierte Die Wiener Bilder meldet am 12. Jänner: »Der Wiener Dichter Peter Altenberg ist schwer erkrankt. Sein Zustand ist besorgniserregend.« Fürwahr. Als die Wochenzeitung erscheint, ist Peter Altenberg schon einen Tag begraben. Bekannte haben am Dreikönigstag den Bruder des Dichters und Wiener Bohemiens alarmiert. Er findet ihn im Zimmer 51 des Graben-Hotels in der Dorotheergasse im Bett liegend. Altenberg hat offensichtlich hohes Fieber. Sein Bruder veranlasst seine Einlieferung ins Allgemeine Krankenhaus. Peter Altenberg verzichtet seit Jahren auf eine feste Bleibe und logiert in wechselnden Hotels. Seine Meldezettel spannen ein geografisches Netz über Wiens Innenstadt. Im neuen Graben-Hotel hat der kauzige Poet seit 1913 eine Heimat gefunden und sie mehrfach zufrieden beschrieben: »Mein einfenstriges Kabinett im fünften Stock ist mein ›Nest‹. Halm für Halm zusammengesucht seit zwanzig Jahren. Kurz alles meinem Sein, meinem Geschmacke, meinen inneren Erlebnissen entsprechend. Ein Nest! Wenn ich denke, wer dieses geliebte Kabinett einmal in Bausch und Bogen erben wird, da freut mich wirklich das ganze Sterben nicht.«
Der 60-jährige Altenberg wird aus seinem »Nest« in die III. Medizinische Klinik von Professor Franz Chvostek »bereits in bedenklichem Zustand« eingeliefert.