Eine Republik in Angst vor revolutionären Umtrieben und eine Verwaltung in k. u. k. Tradition, die sich schon am Tage der Ausrufung der Republik zur Verfügung stellt: Ministerialrat Dr. Josef Freiherr von Löwenthal erscheint am 12. November im Parlament und teilt dem provisorischen Staatskanzler Karl Renner mit, dass er in der Herrengasse 7 gut eingerichtete Büroräume und loyale Mitarbeiter vorfinden werde. Der 46-jährige Jurist aus begütertem großbürgerlichen Haus übernimmt selbst die Leitung der Staatskanzlei. Damit ist der nahtlose Übergang von der bürokratischen Monarchie zur bürokratischen Republik – und damit auch deren Funktionieren – gesichert. Der Übergang von einer Staatsform in die andere wird in den entscheidenden Wochen ordentlich administriert. Die Institutionen mögen einen anderen Namen, ein anderes Wappen erhalten, aber sie legen weiter Akten an, erlassen Verordnungen, urteilen und agieren bescheidgemäß. Die Republik wird von den gesellschaftlichen Eliten des Kaiserreichs ausgerufen. Die sozialdemokratischen Funktionäre gehören dazu. Sie wurden schon 1907 und 1911 aufgrund eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts (für Männer) gewählt.
Der Adel ist zwar abgeschafft, lebt aber auf seinen Gütern und in den Wiener Palais fort. Die Frauen erhalten politische Gleichberechtigung und werden doch von Entscheidungen ferngehalten. Ein Hellseher taucht auf und hypnotisiert die Massen. Die von vier Kriegsjahren ausgelaugte Bevölkerung wird von der »Spanischen Grippe« erfasst. Es fehlen Kohle zum Heizen, Gas zum Kochen und Erdäpfel zum Essen. Wiens Kinder hungern, sie sterben an Tuberkulose (die zur »Wiener Krankheit« wird) und werden in die Schweiz, nach Schweden, Norwegen oder in die Niederlande zum »Aufpäppeln« verschickt. Der Diplomat Carl Jacob Burckhardt kommt in diesen Tagen nach Wien und ist entsetzt: »Die Stadt bot einen Anblick, bei dem man überhaupt nicht mehr annahm, daß noch irgendetwas in ihr geschehen könne, irgendein Ereignis hier seinen Ursprung nehmen, irgendeine Regung erfolgen werde. Man sah damals die Leute auf der Straße vor Hunger umfallen; von allem Elend, das herrschte, als der Weltkrieg in der Not der mitteleuropäischen Menschheit zusammenbrach, war das Wiener Elend das schrecklichste, die Erschöpfung der Kaiserstadt die tiefste, die Aussicht des alten Österreichs die hoffnungsloseste.« Stefan Zweig wundert sich noch Jahrzehnte später, »wie das ausgeplünderte, arme, unselige Österreich damals erhalten geblieben ist. Zur Rechten hatte sich in Bayern die kommunistische Räterepublik etabliert, zur Linken war Ungarn unter Bela Kun bolschewistisch geworden, noch heute bleibt es mir unbegreiflich, dass die Revolution nicht auf Österreich übergriff.« Der Schriftsteller vergisst auf den etwas weiteren Blick. In Berlin toben Straßenkämpfe. Reguläre Armeeeinheiten setzen Artillerie und sogar Flugzeugbomben gegen den Aufstand der »Spartakisten« ein. 1200 Menschen sterben in der deutschen Hauptstadt. Im ehemaligen russischen Zarenreich kämpfen auch noch im zweiten Jahr nach der Revolution Soldaten der »Weißen« gegen die bolschewistische »Rote Armee«. In Dalmatien meutern italienische Truppen und besetzen unter dem pathetischen Kommando des Dichters Gabriele d’Annunzio die Hafenstadt Fiume. Und bei den schottischen Orkney-Inseln versenkt ein deutscher Konteradmiral fast die gesamte wilhelminische Flotte.
Europa ist ein Tollhaus. Der Abbruch jahrhundertealter und längst überholter Staatsstrukturen wird zum Nährboden für einen »Krieg der Träume und der Ängste«. An Explosivstoff fehlt es wahrlich nicht. Zweig beschreibt die Welt von Gestern: »In den Straßen irrten die heimgekehrten Soldaten halb verhungert und in zerrissenen Kleidern umher und sahen erbittert auf den schamlosen Luxus der Profiteure des Krieges und der Inflation.«
Ob der Präsident der provisorischen Nationalversammlung, der Sozialdemokrat Karl Seitz, oder Staatskanzler Karl Renner selbst mit Bleistift die Korrektur im 1. Artikel des Verfassungsgesetzes vorgenommen hat, bleibt unbekannt. Die »deutschen Alpenlande« werden jedenfalls auf der Druckfahne handschriftlich durch den Begriff »Deutschösterreich« ersetzt, ehe auf Verlangen der Siegermächte das »Deutsch« gestrichen werden muss und »Österreich« bleibt. So soll das Land, das nach einem unbelegten Zitat des französischen Ministerpräsidenten Georges Benjamin Clemenceau nur »der Rest« (»L’Autriche est ce qui reste«) der einstigen Habsburgermonarchie ist, heißen. Der Name Österreich wird im Friedensvertrag von Saint-Germain den »Deutschösterreichern« aufgezwungen. Und das territoriale Überbleibsel der einst »im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder« wird mit einem Verbot belegt: Österreich darf nicht Teil des Deutschen Reiches werden. Der Artikel II des »Gesetzes über die Staats- und Regierungsform« lautet: »Deutsch-Österreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik.« Auch dieser Satz wird gestrichen. Am Anfang »des Restes« steht eine Negation.
Die unbestimmten Hoffnungen auf das erste Friedensjahr 1919 zerbröseln im Entsetzen über die Friedensbedingungen des Vertrages von Saint-Germain. Das deutschsprachige Südtirol geht verloren, die deutschböhmischen Bezirke ebenso, die Südsteiermark mit Marburg wird Teil des neuen jugoslawischen Staates. Die Neue Freie Presse kommentiert die Unterzeichnung durch Staatskanzler Karl Renner: »Es ist vollbracht. Deutschösterreich hat das Todesurteil unterschrieben. (…) und so hat Deutschösterreich alles verloren, sogar den Namen, und ist zum Schlemihl (Narren, Anm.) unter den Staaten geworden, zu einer schattenlosen, armseligen Gestalt, noch bis zuletzt von dem Hohne der Gegner herabgewürdigt. Der Friedensvertrag muss angenommen werden, weil wir sonst verhungern.«
Und dennoch: 1919 bringt die »neue Zeit«. Die Republik. Österreich. Es beginnt ein rasanter sozialer Wandel: Das gleiche Wahlrecht für alle, endlich auch für Frauen. Die vornehmlich in der Sozialdemokratie organisierte Arbeiterschaft steigt zur bestimmenden Kraft auf. Im neuen Kleinstaat ist das verarmte Wien noch immer ein kulturelles und wissenschaftliches Gravitationszentrum. Sigmund Freud wirkt hier. Der »Wiener Kreis« um den Mathematikprofessor Hans Hahn und um Moritz Schlick trifft sich regelmäßig zum »Mathematischen Seminar« im Institutsgebäude in der Boltzmanngasse. Die Gruppe entwickelt ein naturwissenschaftlich begründetes Verständnis von Philosophie. Zu den Schülern zählen Otto Neurath, Karl Menger und Kurt Gödel. Zur gleichen Zeit entsteht die »Wiener Schule der Nationalökonomie«. Sie wird über Jahrzehnte diese Disziplin prägen. In der Sozialwissenschaft werden neue Techniken entwickelt, die auch Auswirkungen auf die Politik haben.
Auf dem einstigen Exerzierfeld der »Schmelz« wird der Grundstein für einen ersten Wiener Gemeindebau gelegt, und mit dem Weiterbau des »Metzleinsdorfer Hofes« beginnt das »Rote Wien«. Baron Rothschild lässt die Bevölkerung von Waidhofen auf seinem Forstgut Wildtiere jagen. Und der letzte Kaiser Karl wartet auf Schloss Eckartsau auf die Entscheidung der Wiener Regierung, aber vor allem der Alliierten, über sein Los. Noch träumt er von einer politischen Aufgabe in einem der Nachfolgestaaten, ehe er in einem Sonderzug unter Bewachung englischer Offiziere das Land verlassen muss und dabei am Bahnhof von Feldkirch Stefan Zweig begegnet. Langsam nur beginnt die bessere Wiener Gesellschaft sich auf das Leben in dem neuen, so kleinen, so armen Staat einzustellen. Es scheint, als ob die politischen Umbrüche auch das künstlerische Schaffen gebrochen hätten: Gustav Klimt ist tot, Egon Schiele ist tot, Otto Wagner ist tot, Peter Altenberg wird zu Grabe getragen und Karl Kraus hält die Trauerrede. Immerhin: Richard Strauss bringt seine Frau ohne Schatten im 50. Gründungsjahr der Wiener Oper zur Uraufführung. Seine Bestellung zum Operndirektor wird von schrillen Misstönen des Bühnenpersonals begleitet. Der Regisseur Max Reinhardt und der Dichter Hugo von Hofmannsthal träumen nicht nur von einer neuen kulturellen Mission Österreichs, sie tun etwas und gründen die Salzburger Festspiele.
Oskar Kokoschka phantasiert weiter in Dresden von seiner Alma und lässt sich eine lebensgroße Puppe mit ihren Zügen basteln. Sie wird im Frühjahr 1919 geliefert. Der pensionierte Rittmeister ist enttäuscht, entsetzt. Die Puppe ähnelt seiner »Almschi« nicht. Er »tötet« die Stofffigur, übergießt sie mit Rotwein und schleift