Martin Buber schaut entschuldigend zu seiner Begleiterin hinüber, doch das kann er so nicht stehenlassen. Anna Maria Jokl nickt ihm zu. Sie ist neugierig auf die Erwiderung. Und so sagt Buber: »Aber Sie wissen, Herr Scholem, dass mir der Dialog das eigentliche Anliegen ist, das Gespräch, der Austausch, die Kontroverse, auch über den Abgrund hinweg, zum Gespräch gehört sein Scheitern wie sein Gelingen, zur Begegnung die Vergegnung, der Dialog ist ein treibendes, durchdringendes Prinzip, nicht nur ein punktuelles Ereignis. Darum bin ich schon recht bald nach 1945 wieder nach Deutschland gefahren, gegen manchen heftigen Widerstand, auch den Ihren, habe zu Deutschen gesprochen, mit Politikern wie Theodor Heuss geredet, Auszeichnungen wie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels empfangen. Leben ist Begegnung.«
»Darum, lieber Herr Buber, nannte ich Ihre Übersetzung ein Gastgeschenk der Juden an die Deutschen im Augenblick des Scheidens, vor 1933, ein Gastgeschenk freilich, das die Gastgeber ausgeschlagen haben.«
Beide Herren, der ältere wie der jüngere, sprechen ein Deutsch, der eine Wienerisch, der andere Berlinisch gefärbt, das man heute gar nicht mehr vernimmt und damals in Deutschland selten vernahm, gewählt, gelehrt, erhaben, ernsthaft und ohne Ironie, mit einem Pathos der Distanz, das beide in ihrer Ferne belässt und doch in der Form verbindet.
Der Disput zieht sich noch hin, Anna Maria Jokl folgt ihm, und doch gebietet die Höflichkeit letztendlich, ihm Einhalt zu gebieten. Anna Maria Jokl erzählt nun von ihrem Leben in Berlin, ihrer Arbeit als Psychotherapeutin. Unterdessen hat sich das Café gefüllt. Hannah Arendt hat sich an einen anderen Tisch gesetzt. Sie ist gerade aus New York gekommen, hat Quartier in Rechavia genommen, um über den Prozess gegen Adolf Eichmann zu berichten, der am 11. April 1961 vor dem Bezirksgericht in Jerusalem beginnt, ein Prozess, der die israelische Gesellschaft aufwühlen und lange beschäftigen wird; bis heute dauert diese Beschäftigung an. Adolf Eichmann, einer der Hauptverantwortlichen der Shoah, wurde im Mai 1960 vom Mossad, dem israelischen Geheimdienst, in Argentinien festgesetzt und verhaftet. Der »New Yorker« hat Hannah Arendt nach Israel geschickt, um in fünf Folgen über den Prozess zu berichten. »Eichmann in Jerusalem« heißt ihr Report, den sie 1963 auf Englisch, bald danach auf Deutsch veröffentlichen wird. Dieses Buch wird zu einer erbitterten Kontroverse zwischen der Autorin und ihren israelischen, auch amerikanischen Kollegen führen, erst recht zwischen Gershom Scholem und Hannah Arendt, deren Verbindung im Schweigen enden wird, einem beredten Schweigen mit einem Schlusspunkt deutlicher Briefe von beiden. Aber das ist an diesem Schabbatabend für beide Zukunft, für uns Vergangenheit.
Mascha Kaléko betritt das Café mit schnellen Schritten. Sie weiß, wer Hannah Arendt ist, kennt sie flüchtig aus New York, aber die beiden Damen trennen Welten in ihrer jeweiligen Weltwahrnehmung, in Schreiben und Herkunft. So geht Mascha Kaléko nicht auf sie zu. Ein Café in Jerusalem, schrieb sie einem Freund in Amerika, sei ein leichter Euphemismus. Heimisch ist sie nie dort geworden, seit sie 1959, zusammen mit ihrem Mann, dem Komponisten chassidischer Musik Chemjo Vinaver, nach Rechavia zog, weil sie von dem milden Klima Linderung für sein Asthmaleiden erhoffte. In Wirklichkeit setzte beiden das Klima zu, vor allem der Chamsin, ein föhnartiger Wüstenwind, der – wie die arabische Bezeichnung lautet – Fünfzig, das heißt fünfzig Tage im Jahr, vor allem im Frühsommer und im Herbst, mit einem Gluthauch über die Stadt streicht. Mascha Kaléko wird in Jerusalem eine Fremde bleiben, wie ihr Berlin, ihre Heimatstadt, nach dem Krieg nicht wieder vertraut wird. Nur: Der Grunewald im Orient liegt noch weiter weg von New York, wo der geliebte einzige Sohn lebt. Jeden Tag wartet sie auf einen Brief von Steven, der höchst selten schreibt. Und Telefonanrufe über den Kontinent hinweg kosten ein Vermögen. So lebt Mascha Kaléko in Rechavia mit tausend Gedanken an New York und Erinnerungen an die Bleibtreustraße und das Karree um den Savignyplatz. Einer Freundin schreibt sie um diese Zeit aus Jerusalem: »Hörte am Radio ein Lied aus den Spätzwanzigern in Berlin, das war wie ein Blitz, der in mein schlummerndes Empfinden einbrach, auf einmal war mein Herz wieder wie damals, so jung, so rauschend, so liebend – Das war ich einst, dachte ich, fast erstaunt.«
Mascha Kaléko bemüht sich um eine Neuauflage ihrer einst so populären Bücher und neuer Titel im Rowohlt Verlag. In Berlin, Hamburg oder München findet sie Leser; in Israel kennt sie niemand. Im Café in der Ben-Jehuda-Straße geht sie zum Tisch von Scholem, Buber und Anna Maria Jokl. Der Berliner Tonfall des einen geht ihr zu Herzen, Martin Buber ist ihr vertraut, die beiden haben Briefe gewechselt. Anna Maria Jokl dürfte Kalékos Gedichte gekannt haben. Man wechselt einige Worte.
Der Abend schreitet voran, die verstreut sitzenden Gäste, die einander kennen, beschließen zusammenzurücken. Die Kellnerinnen stellen Tische und Stühle zusammen, Hannah Arendt sitzt zwischen Gershom – den sie nur Gerhard nennt, er sagt Hannah, beide bleiben beim Sie – und Martin Buber. Ihnen gegenüber Anna Maria Jokl und Mascha Kaléko. Werner Kraft gesellt sich zur Runde und setzt sich neben sie, auch wenn deren Gedichte ihm zu leichtfüßig, heutig, zu lebensnah daherkommen. Kraft beschäftigt sich mit Stefan George, Rudolf Borchardt, mit den Klassikern aus Weimar. Aber nun sitzen sie eben nebeneinander.
Um sie gruppieren sich, auf mehrere Tische verteilt, andere Abendgäste. Lea Goldberg hat das Café betreten. Sie unterrichtet vergleichende Literaturwissenschaft an der Hebräischen Universität. In Jerusalem ist es ein herausgehobenes Fach; denn die meisten Studenten haben neben Hebräisch eine andere Muttersprache, Polnisch, Russisch, Deutsch. Lea Goldbergs erste Sprache war Russisch, aber sie ist in den Weltsprachen zu Hause, übersetzt aus dem Russischen, Italienischen, schreibt und illustriert Kinderbücher, verfasst Gedichte, Essays. Sie setzt sich zu Jehuda Amichai, dem aus Würzburg stammenden Dichter, gerade 37 Jahre, der später zur poetischen Stimme des Landes werden wird. Gad Granach, der Sohn von Alexander Granach und temperamentvoller Chronist seiner Generation, der in den 1930er Jahren nach Palästina Eingewanderten, trinkt einen Kaffee. Und etwas abseits sitzt ein schüchterner Student allein an einem Tisch. Sein Kibbuz hat ihn in seine Heimatstadt zum Studium geschickt, ein Privileg, das nur selten besonders begabten Kibbuzniks zuteilwird. Als Amos Klausner ist er geboren. Als Amos Oz wird er vierzig Jahre später den bedeutendsten Roman über Jerusalem verfassen, »Eine Geschichte von Liebe und Finsternis«.
Der Zufall hat die Menschen im Café zusammengeführt, die auf ganz unterschiedlichen Wegen hierhergekommen sind, von weit her, für einige Zeit, für immer, aus Überzeugung, zionistisch gesinnt, aus Not.
Die Kuchenteller sind abgeräumt, man trinkt Kaffee oder Tee, die weltläufige Hannah Arendt hat einen Whisky bestellt, den es nicht gibt, man bringt ihr stattdessen israelischen Brandy der Marke Carmel, Sandwichs stehen auf dem Tisch, belegt mit den beiden Käsesorten, die damals in Israel erhältlich sind, dem gelben und dem weißen, es gibt Salat; Hummus und Techina, der Kichererbsenbrei und die Sesampaste stammen aus der arabischen Küche.
Die sechs Personen tauschen sich aus, sprechen über ihr Herkommen, ihr Ankommen und Leben in Rechavia, über Deutschland, die israelisch-arabischen Spannungen, die Politik des Landes, das ewige Thema, die geteilte Stadt. Scholem hört anfangs zu, spricht dann viel, »wat hier jeredt wird, red ick«, sagt man dem Berliner nach. Werner Kraft, mit dem ernsten Gespür für Literatur, berichtet von einer Lesung, wohl Anfang der vierziger Jahre, bei der das heute vergessene Gedicht »Allerseelen« von Hermann von Gilm zur Sprache kommt: »Ich erinnere mich aber, wie Else Lasker-Schüler am Schluss ihrer Ansprache vor einer Vorlesung in Jerusalem die erste Strophe gesprochen hat: ›Stell’ auf den Tisch die duftenden Reseden, / Die letzten roten Astern trag’ herbei / Und lass uns wieder von der Liebe reden / Wie einst im Mai‹ – und das ganze zerstörte Deutschland wurde in den Versen wach.« Wie nebenher wird hier die Bedeutung des Deutschen für Rechavia lebendig, eine zitierte Vergangenheit, weithin abgeschnitten von der Gegenwart des damals gesprochenen wie geschriebenen Deutsch.
Else Lasker-Schüler hat den Ort literarisch mitbegründet, erfunden; ihr imaginäres Jerusalem war das reale Rechavia, der Kraal. Mit Adon, also Herrn Scholem war sie so bekannt wie mit Adon Buber. »Eine große Dichterin. Wissen Sie, dass sie um die Ecke herumgeisterte?«, weiß Mascha Kaléko zu berichten. »Die Abendlandschaften sind wirklich – wenn sie sie schon vorher erahnte, ohne sie zu kennen – wie von der L[asker]-S[chüler] erfunden. In den ›Abendfarben Jerusalems‹, ich glaube, sie schrieb das,