»Dahlemisch« erscheint es seinen Bewohnern aus Berlin, und doch ist Rechavia kein Vorort, sondern liegt nahe am Zentrum des westlichen Jerusalem, nicht weit von der Jaffa- und der Ben-Jehuda-Straße, dem Zionsplatz, dem Machane Jehuda, dem Jüdischen Markt. Bis zur Altstadt sind es nur wenige Kilometer; aber die ist Anfang der sechziger Jahre noch durch Zäune, Mauern und Stacheldraht abgetrennt. Jerusalems historische Altstadt gehört zu Jordanien. Eine Grenze trennt seit 1948 West- und Ostjerusalem. Immer wieder kommt es an dieser Grenze zu Schießereien. Am Rand von Rechavia kann man die Schüsse hören und Leuchtfeuer sehen.
Die deutschsprachige Zeitung »Jedioth Chadaschoth« hat ein Klavierkonzert »am Schabbatausgang um 8.30« angekündigt. Die Mozartsonaten spielt Daniel Barenboim. Man bietet »volkstümliche Ausflüge von Tel Aviv, Haifa und Jerusalem nach Ejlath« an, der neuen Stadt am Roten Meer, »zwei Tage – Mittwoch und Freitag« oder »Sodom ein Tag – Donnerstag«, und verspricht: »Volkstümliche Preise/Erklärungen in den üblichen Sprachen.« Das heißt gewiss auch auf Deutsch. In einer anderen Anzeige wendet man sich an »Restitutionsempfänger«: »Wir liefern Ihnen für Ihre 33 % aus Entschädigungsgeldern erstklassige weltbekannte Markenartikel, darunter Grundig Tongeräte … Zeiss Ikon Optische Geräte. Lassen Sie sich nicht irreführen. Achten Sie genau auf unsere Firmennamen.« Am 16. Februar 1961 wird die Menge »der diesjährigen Regensaison« mit 335,6 mm Regen beziffert. »In der Hauptstadt herrschte gestern in den frühen Morgenstunden recht erhebliche Kälte.« Und Anfang der 1960er Jahre dirigiert der über achtzigjährige Robert Stolz mit dem Israel Philharmonic Orchestra nicht weit von unserem Stadtteil entfernt, im Binjanej ha’uma, dem groß angelegten Volkshaus, »Eine Nacht in Wien«.
Gershom Scholem verlässt an diesem Schabbatabend seine Wohnung in der Abarbanelstraße und geht bis zur Ecke King George, um dort links abzubiegen. Er ist in Gedanken versunken, kein Caféhausgänger, seinem preußischen Temperament widerstreben Cafés mit allem, was dazugehört, ausgedehnte Zeitungslektüre, stundenlanges Verweilen, zufällige Tischgespräche, vertane Zeit. Heute macht er eine Ausnahme und kommt Martin Buber entgegen, der aus Österreich-Ungarn stammt und Jahre seines Lebens und Lernens in Wien verbracht hat. Gemeinhin empfängt der alte Herr, dreiundachtzig Jahre, bei sich zu Hause. Aber ebendieses Haus in Talbi’e, dem Nachbarviertel von Rechavia, wäre kein guter Ort für die Verabredung an diesem Sonnabend. Dort, in jenem Haus, überreichten wenige Wochen zuvor Freunde und Weggefährten, Professoren, Verleger Martin Buber den letzten Band seiner Bibelübersetzung, die er fast vierzig Jahre zuvor zusammen mit Franz Rosenzweig begonnen hatte.
»Lieber Herr Buber«, so hatte Gershom Scholem gesprochen, »wenn wir uns heute in Ihrem Hause zusammengefunden haben, um den denkwürdigen Tag des Abschlusses Ihrer Bibelübersetzung ins Deutsche zu feiern, ein bißchen nach der Art eines alten jüdischen ›Ssijum‹ beim Abschluß des Studiums, so ist das für uns eine bedeutsame Gelegenheit, auf dies, Ihr Werk, seine Absicht und seine Leistung zurückzublicken.« Und gerade diese Ansprache, die eine Lobrede hätte sein sollen, hatte einen Dissens zwischen Gershom Scholem und Martin Buber hervortreten lassen, der nicht neu war, hier aber mit Macht aufbrach. Der Streit betraf alles, die überlieferte jüdische Tradition, die Art und Weise, sie zu lesen, die Schlüsse, die beide daraus zogen. Auf den ersten Blick eine Auseinandersetzung zwischen zwei Gelehrten unter sich. Aber das war sie nicht. Im Kern betraf sie das Verhältnis von Deutschen und Juden, die historische Bürde, den Umgang damit, eine mögliche Annäherung der beiden Völker, das Verhältnis zweier Staaten, Deutschland und Israel. Es ist kein Zufall, sondern bezeugt einen ganzen historischen Zusammenhang, dass sich diese Kontroverse an der Bibelübersetzung entzündete. Und dass sie Anfang der sechziger Jahre einen Ort in der Welt hat: Rechavia.
Im Café Atara sitzt an diesem Abend neben Martin Buber Anna Maria Jokl, aus Berlin zu Besuch in Jerusalem. Sie trägt sich mit dem Gedanken, ganz nach Israel überzusiedeln, mit über fünfzig noch einmal den Lebenswechsel zu wagen, den Wechsel der Wohnung, im Beruf, sie will eine neue Sprache erlernen, sich an eine neue Umgebung gewöhnen, die ihr gleich bei ihrer ersten Reise nach Israel 1957 zusagte und doch eine tiefgreifende Veränderung in allem bedeutet, das Wagnis des sechsten Lebens, nach dem Geburtsort Wien, der Heimatstadt Berlin, der Wanderstadt Prag, nach London, wohin sie 1939 vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit dem Schiff von Danzig aus gelangte, nach Ostberlin und Westberlin, wo sie zu dieser Zeit noch in der Sächsischen Straße lebt. Sie hatte Martin Buber bei ihrer ersten Reise in Jerusalem besucht und steht seitdem mit ihm in Verbindung. Er hat ihr, wie so vielen, die Welt des Chassidismus nahegebracht, mit seinen Erzählungen und Geschichten des Ostjudentums der österreichisch-ungarischen Kronländer, dem Anna Maria Jokl entstammte. Martin Buber war der Ziehvater ihres Wechsels von Berlin nach Jerusalem.
Das Café Atara, 1938 von der Familie Grinspan in der Ben-Jehuda-Straße als »Esslokal« eröffnet, wurde rasch zu einem Treffpunkt der Jeckes, in dem neben der englischsprachigen »Jerusalem Post« und den »Jedioth Chadaschoth«, das »MB«, das »Pariser Tageblatt« oder die »Jüdische Rundschau« aus Berlin, die »Weltwoche« aus Zürich auslagen, die immer bedrückendere Nachrichten aus dem Heimatland ihrer Leser brachten. Äußerlich sieht das Atara, zu Deutsch: die Krone, 1961 noch so ähnlich aus wie bei seiner Gründung über zwei Jahrzehnte zuvor: die grüne Markise, die braune Kaffeebohne als Logo, die einfachen Tische und Stühle, der »Kaffee hafuch«, »Kaffee verkehrt«, wenig Kaffee in viel Milch, wahrscheinlich eine Wiener Erfindung aus jener Zeit, als die Türken nach der Belagerung der Stadt einige Säcke mit Kaffebohnen zurückgelassen hatten. Oder den »Jeruschalmi«, bei dem man einfach Kaffeepulver in die Kanne schüttet und heißes Wasser darübergießt.
»Für die Jeckes war das Atara ein Stück Heimat«, berichtet Gad Granach: »Man ging ins Café, um zu sehen und gesehen zu werden. Jeder kannte jeden. Oben, im ersten Stock des alten Atara, saßen die Jüngeren. Die Älteren, die die Treppen nicht mehr schafften, saßen unten. Und jeder hatte ›seine‹ Kellnerin. Das waren keine kleinen Aushilfsmädchen, sondern gestandene Frauen, die oft jahrelang dort gearbeitet haben. Ich erinnere mich an Stella und Zima, die wussten nicht nur genau, was ihre Stammkunden immer bestellten, die waren auch Beichtmütter. Mit denen haben manche Gäste wahrscheinlich mehr geredet als mit den eigenen Ehefrauen.«
Gershom Scholem ist im Café Atara angelangt, öffnet die Glastür, erblickt Buber und die unbekannte Begleiterin. Buber stellt sie ihm vor, Anna Maria Jokl aus Berlin, aufmerksam, freundlich schaut sie den hochgewachsenen Mann an, reicht ihm die Hand: »Schalom«. Scholem setzt sich, bestellt Kaffee und Schokoladenkuchen in dem Café, in dem man ihn nur selten sieht.
»Lassen Sie es mich gleich freiheraus sagen, Herr Scholem, Ihr Wort vom ›Grabmal‹ für meine Bibelübersetzung liegt schwer auf meinem Herzen«, hebt Buber sogleich an. »Ich erahne, was Sie damit ausdrücken wollten an dem Winterabend bei mir zu Hause, aber dies harte, scharfe, steinschwere Wort ist meiner jahrelangen, jahrzehntelangen Arbeit nicht angemessen, es ziemt sich nicht, so darüber zu sprechen.« Er holt Luft, lässt Scholem aber noch nicht zu Wort kommen. »Das Vorhaben, die Bibel aus dem alten Hebräisch ins Deutsche zu übersetzen, reicht Jahrzehnte zurück, als ich in Frankfurt zusammen mit Franz Rosenzweig damit begann. Es war die Geburtsstunde einer lebendigen Arbeit, nicht das Grabmal, als das es Ihnen nun erscheint.«
»Sie tun mir Unrecht, Herr Buber, das Wort vom Grabmal bezieht sich nicht auf Ihre Absicht, die ich hoch achte, genau wie die Rosenzweigs, nicht auf Ihre Arbeit als solche, sondern auf deren Wirkung heute, fünfunddreißig Jahre später«, lenkt Scholem ein und hebt einen Zeigefinger. »Ich war mir der Gefahr, an dem Abend im Februar missverstanden zu werden, bewusst. Ich muss fürchten (oder hoffen?), sagte ich in Ihrem Haus, Ihren Widerspruch herauszufordern, und doch drängt sich meinem Gefühl die Frage auf: Für wen wird diese Übersetzung nun bestimmt sein, in welchem Medium wird sie wirken? Historisch gesehen ist sie nicht mehr ein Gastgeschenk der Juden an die Deutschen, sondern – und es fällt mir nicht leicht, das zu sagen – das Grabmal einer in unsagbarem Grauen erloschenen Beziehung.« Er lässt die Hand mit dem erhobenen Finger sinken. »Die Juden, für die Sie übersetzt haben, gibt es nicht mehr. Die Kinder derer, die diesem Grauen entronnen sind, werden nicht mehr Deutsch lesen. Die deutsche Sprache selber hat sich in dieser Generation tief verwandelt, wie alle wissen, die in den letzten Jahren mit der neuen deutschen Sprache zu tun hatten – und nicht in der Richtung jener Sprachutopie, von der Ihr