Die Welt, die ich mit diesem Buch beschreiben möchte, versammelt sich in einem Jerusalemer Stadtteil: in Rechavia, der Weite Gottes. Auf vergleichsweise schmalem Raum staut sich eine lange Zeit, die von den anderthalb Jahrzehnten der Weimarer Republik und der Zeit von 1933 bis 1945 bis weit in die Nachkriegszeit reicht. Der Raum dieser Geschichte erstreckt sich auf eine Handvoll Straßen, Plätze, einige Läden und Cafés, auf sparsam möblierte Wohnungen mit Flügeln, Notenständern, mit einigen Bildern und vor allem lauter Bücherwänden. Jahrzehnte später wurden diese dann abgetragen, am Straßenrand lagen zerfleddert alte Einbände der Klassiker, von Goethe und Schiller, Kleist, Conrad Ferdinand Meyer, von Gottfried Keller, daneben Zuckmayers »Des Teufels General«, einzelne Hefte der »Neuen Rundschau«, eine Erstausgabe von Thomas Manns »Tonio Kröger«, Werke von Martin Buber oder Heinrich Bölls »Billard um halb zehn«, Günter Grass’ »Katz und Maus«. Zerzauste Bestände lang gesammelter, erlesener Bibliotheken landeten auf dem Sperrmüll. Die Namen und Titel der Bücher sagten den israelischen Enkeln, Nichten und Neffen – die zweite Generation verstand zumindest noch etwas Deutsch – in den allermeisten Fällen so wenig wie das alte Mobiliar, die schweren Truhen, Tische und Stühle. Das ein oder andere Exemplar der achtlos am Rande liegenden Bücher nahm ich damals mit.
Rechavia war das »deutsche«, das deutsch-jüdische Jerusalem, Hauptstadt der Jeckes, die auf ganz unterschiedlichen Wegen ins Land gekommen waren, geflohen, übersiedelt, besuchsweise, zeitweise von der britischen Mandatsmacht interniert, aus zionistischer Selbstbehauptung oder dem Antisemitismus, der nationalsozialistischen Verfolgung entronnen, sie traumatisiert hinter sich lassend, was so viel heißt: sie mit sich zu tragen. Auch das zeigen die nachfolgenden Zeugnisse.
Viele der eingewanderten Jeckes stammten aus Berlin oder hatten doch eine wesentliche Zeit ihres Lebens dort verbracht. Rechavia nahm in seine »Weite Gottes« etwas vom inneren Grundriss der großen Stadt auf. »Grunewald im Orient« nannten Bewohner wie Besucher Rechavia, nach dem vornehmen bürgerlichen Berliner Westen, der im Westen Jerusalems auf eigene Weise auflebte.
Die innere Geografie dieser wenigen Quadratkilometer ist in Büchern, Briefen, Bildern, Fotografien überliefert, in Else Lasker-Schülers »Hebräerland«, Gershom Scholems Autobiografie »Von Berlin nach Jerusalem«, in Gedichten von Mascha Kaléko, in den vielen Briefen, die sie von Jerusalem aus schickte, in den Schriften von Werner Kraft und anderen.
Am Anfang steht die eher zufällige Begegnung der Protagonisten dieses Buches in einem Café in unserem Viertel. Sechs Personen suchen und finden sich an einem Abend in Jerusalem Anfang der 1960er Jahre. Dass sie einander begegnet wären, ist ein bloßer Wunsch – doch zugleich mehr. Denn ihre Wege in Rechavia haben sich, tatsächlich oder unausgesprochen, gekreuzt. In den anschließenden Kapiteln werden diese Wege und Scheidewege, die Orte, der jeweilige Aufbruch in Berlin – die Stadt bleibt der magnetische Pol –, vor allem die Kreuzungspunkte von Else Lasker-Schüler, Gershom Scholem, Werner Kraft, Mascha Kaléko und Anna Maria Jokl und von anderen gezeigt, die jeder für sich einen Aspekt des Stadtteils zeigen.
Rechavia wurde seit den 1920er Jahren zu einer geistigen Lebensform. Manches davon, Wahlverwandtes fand man auch in Tel Aviv, auf dem Carmel in Haifa oder anderswo im Land Israel, nur eben nicht in dieser besonderen Dichte und der Ausprägung eines einzelnen Viertels.
Zu Rechavia gehörte die Hebräische Universität auf dem etwas entfernten Mount Scopus, später im benachbarten Givat Ram; viele Studenten hatten hier ein Zimmer zur Untermiete. Zu diesem berlinisch geprägten Viertel Jerusalems gehörte ebenso ein kleiner Einzelhandel, der Eisenwarenhandel, ein Hutgeschäft, Meislers Elektroladen, Modegeschäfte, Zeitungskioske, Buchläden, ein Kino, das Café »Atara« oder das Caféhaus »Sichel« oder »Rechavia«, die Pension von Käthe Dan sowie die tägliche Lektüre von »Blumenthals Neueste Nachrichten«, aus denen später die »Jedioth Chadaschoth« wurden (der Name in lateinischen Buchstaben auf der ersten Seite gedruckt), dann die »Israel-Nachrichten«, »Chadaschoth Jisrael« (nun auch auf Hebräisch) und dem »MB«, dem späteren, ebenfalls deutschsprachigen Mitteilungsblatt der Einwanderer aus Deutschland, das in Tel Aviv erschien.
Entstanden war Rechavia auf dem Reißbrett eines Architekten aus Deutschland, dem von Richard Kauffmann, der 1920 eingewandert war, um Pläne der »Hachscharat ha-Jischuw« zu entwickeln, der Israel (zuvor: Palestine) Land Development Company, die für die zionistische Bewegung Wohnviertel und Siedlungen erschloss.
Die Geschichte eines Stadtviertels lässt sich geografisch, architektonisch, städtebaulich oder chronologisch schreiben. Entscheidend sind aber Biografien ihrer Bewohner, die eben die Geschichte dieses Viertels über Jahrzehnte geprägt haben, wie Rechavia selbst diese Lebensläufe bestimmte. Bei den einzelnen Biografien gibt es – wie könnte es anders sein – Überschneidungen, Gleichzeitigkeiten wie Verspätungen, vor allem aber auch ein verbindendes örtliches Koordinatennetz.
Rechavia ist seiner Anlage nach ein symmetrisch angeordnetes Stadtviertel mit gitterförmigen Straßen. Es lässt sich allerdings nicht mit dem Lineal genau eingrenzen, sondern erscheint wie mit unsicherer Kinderhand umrissen. »Es gab keine klar gezogenen Grenzen zwischen Talbieh, einem gemischten Viertel, Rechavia, das vollkommen jüdisch war, und dem überwiegend arabischen Katamon«, schreibt Walter Laqueur in seinem Stadtporträt.
So sind mehrere Benennungen für den Charakter des Viertels denkbar und nähern sich doch alle dem Stadtteil und seiner Geschichte asymptotisch. Rechavia würde wörtlich genommen in die Irre führen. Verkehrsplaner haben die von den Städteplanern angedachte Weite eng verbaut. Die zärtliche Charakterisierung vom »Grunewald im Orient« lässt die Gartenstadt hervortreten, David Kroyankers schöne Umschreibung von Rechavia als »preußischer Insel im Meer des Orients« trifft das Moment des Abgeschnittenen, trennt aber die Insel nicht ganz vom Festland des »deutschen« Jerusalem, der Welt der Templer und Siedler, von Kaiser Wilhelm II. in Jerusalem.
Else Lasker-Schülers »Traumstadt« meint eigentlich Theben, jene ferne Stadt, die auf der Erde nicht zu finden, allenfalls als Silhouette zu sehen ist. Das Erträumte trägt bei ihr aber immer die Signatur des Wirklichen. Jede Stadt ihres Lebens, ob Wuppertal, Berlin, Zürich oder Jerusalem, nimmt in ihrem Schreiben Partikel der anderen auf. »Meine Träume fallen in die Welt.« Die erträumte Stadt ist ein Aggregatzustand der wirklichen, wie die Literatur überhaupt – bei dieser Dichterin, bei Agnon, Amos Oz oder Jehuda Amichai – der Traumstadt in ihrem festen Grundriss, ihren schwebenden Träumen wie schrecklichen Albträumen ein genaues Gedächtnis bewahrt.
Wie kaum eine andere Wohnung verkörpert die von Werner Kraft (1896–1991) und seiner Frau Erna Kraft (1899–1995) in der Alfasistraße 31 im Bauhausstil und erst recht im Interieur ein typisches Zuhause in Rechavia.
Abend in Jerusalem
»Schon war es Abend geworden, und das ganze Land veränderte sein Aussehen. Die Gassen hielten ihren Lärm zurück, die Straßen wurden teils weißer, teils grauer, und die der Erde nahen Lüfte wurden schwarzdunkel und die dem Himmel nahen rosafarben und die Lüfte dazwischen vorläufig noch unterscheidbar, ohne jeden Farbton. Die Bäume in der Maimonallee und die Männer und Frauen auf der Gasse hüllten sich in eine Art Geheimnis und wußten es selber nicht. Mehr als dies: die einen wie die anderen gaben zu verstehen: ihr wißt nicht, wer wir sind.«
S. J. AGNON, »Schira«
Rechavia an einem späten Sonnabendnachmittag Anfang der 1960er Jahre. Schabbatstille liegt über der Weide, der Weite Gottes. Am Schabbatnachmittag sind die stillen Straßen noch ruhiger. Erst am Abend, an Moza’e Schabbat, fließt das Leben zurück in die Adern der Stadt, und es wird auch in Rechavia lebhafter, lauter. Busse und Autos fahren, man hört Musik aus den Radios, Nachrichten, Kinos und Theater öffnen ihre Pforten, Konzerte beginnen abends gegen halb neun. Mit seinem Bauhausstil, dem unverkennbaren sandfarbenen