Sternstunden Österreichs. Gerhard Jelinek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard Jelinek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783902998910
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Kaiser Leopold II., berief nach dem frühen Tod des 49-jährigen Reformkaisers ein neues Team zur Kodifizierung des Rechtes ein. Karl Anton von Martini wurde Präsident der »Hofkommission in Gesetzessachen« zur Ausarbeitung einer Gesamtrechtskodifikation und ging mit naturrechtlichem Pathos an die Sache heran. Kaiser Leopold II. hatte als Großherzog der Toskana sogar mit der Idee einer Einführung einer echten Verfassung gespielt. Diese Idee ging dann doch zu weit. Immerhin wollte Leopold das Bürgerliche Gesetzbuch um einen Politischen Kodex ergänzen, der die Rechte aller Staatsbürger garantieren sollte. Auch Leopold war damit seiner Zeit um fast sieben Jahrzehnte voraus.

      Karl Anton von Martinis – weitgehend – eigenhändig verfasster Entwurf für ein umfassendes Gesetzbuch war von naturrechtlichen Ideen geprägt. Der Gesetzestext enthielt zahlreiche Bestimmungen, die erstmals in Österreich Grundrechte für die Bürger sicherten. Das Naturrechtsdenken der Neuzeit hatte sich im Anschluss an Martin Luthers Reformation entwickelt: Aus der Gleichheit aller Menschen vor Gott wurde die Gleichheit vor dem Gesetz, die prinzipielle Gleichheit aller Menschen untereinander.

      Auch das war eine Revolution und eine Sternstunde.

      Dieser Urentwurf des späteren Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB) trat als Westgalizisches Gesetzbuch in einem kleinen, abgelegenen Teil der Monarchie in Kraft. Die wirtschaftlich unterentwickelte Region im Süden des heutigen Polen wurde zum rechtspolitischen Laboratorium, in dem das neue Paragrafenwerk erprobt werden konnte. Westgalizien war etwa zwei Drittel so groß wie das heutige Österreich, mit geschätzten 1,3 Millionen Einwohnern aber nur dünn besiedelt. Für die Monarchie stellte es einen weitgehend rechtsfreien Raum dar.

      Wenig später wurde das Gesetzbuch auch im östlichen Teil Galiziens eingeführt. Österreich hatte sich Galizien mit der polnischen Königsstadt Krakau im Rahmen der sogenannten »dritten polnischen Teilung« 1795 einverleibt. Dabei wurde Polen wieder Opfer seiner Geografie. Zwischen den Mächten Preußen, Österreich und dem zaristischen Russland gelegen, zerfledderten diese das Land und beraubten es seiner Eigenstaatlichkeit.

      Der Rechtsgelehrte Karl Anton von Martini wird in Revò – etwa dreißig Kilometer nördlich von Trient – als Carlo Antonio geboren. Seine Muttersprache ist Italienisch. Das Fürsterzbistum Trient ist zu dieser Zeit offenbar ein fruchtbarer Ort für Advokaten, Notare und Rechtsgelehrte. Vielleicht beflügelt die Nähe und der Einfluss oberitalienischer Universitäten wie Padua und Bologna das juristische Denken. Carlo Antonio besucht das Jesuitenkolleg in Trient und schreibt sich an der Universität in Innsbruck ein, wo er Philosophie und Theologie studiert, und zieht später nach Wien an die »Alma Mater Rudolphina«. In der Hauptstadt des Reichs hört Martini rechtswissenschaftliche Vorlesungen. Aus »Geldmangel oder aus Ablehnung des für Promovenden vorgeschriebenen Eides auf die unbefleckte Empfängnis Mariens« beendet er sein Studium ohne Promotion zum »Doktor iuris«. Universitätsprofessor wird er dennoch. Kaiserin Maria Theresia ordnet die juridische Fakultät neu und setzt den Trientiner auf den Lehrstuhl für »Institutionen und Naturrecht«. Die Kaiserin kennt und schätzt ihn. Martini ist am Hof Maria Theresias in die Erziehung der Prinzen eingebunden. Er macht das offenbar so gut, dass die Monarchin seine Leistungen mit der Verleihung des Reichsritterstandes würdigt. Der geborene Welschtiroler darf sich mit dem Prädikat »Edler zu Wasserberg« schmücken. Martini ist offenbar ein hervorragender Lehrer, der es versteht, eine Generation von begabten Juristen zu fördern, sie in wichtige staatliche Positionen zu bringen und so ein »naturrechtliches Netzwerk« aufzubauen. Als Krönung seines beruflichen Lebenswerkes erhält der mit 64 Jahren bereits pensionsreife Martini im Jahr nach Ausbruch der Französischen Revolution die Chance, die Kodifikation eines bürgerlichen Gesetzbuches als »Gesetzgebungsminister« zu fördern.

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      Ein typischer Österreicher: Carlo Martini wird im Trentino geboren, spricht italienisch und schafft eine »deutsche Rechtssprache«. Sein Entwurf für ein Westgalizisches Gesetzbuch wird zur Grundlage des ABGB – ein Gesetzbuch für das Volk.

      »Reformer« ist unter dem Regime der Kaiserin eine Berufsbezeichnung. Martini modernisiert die Gymnasien, arbeitet als Richter und Staatsrat, sitzt in der kaiserlichen Zensurkommission und begleitet die Neuauflage des damaligen Kirchenrechts. Martinis rechtshistorische Leistung für das Gelingen der Arbeit am österreichischen bürgerlichen Gesetzbuch besteht darin, dass er sich von der Einzelfallsgesetzgebung des preußischen Rechts abwendet und dadurch die österreichische Privatrechtskodifikation strafft und verständlich macht. Zählte der Codex Theresianus noch 8367 Paragrafen, so kommt Martini mit einem Fünftel davon aus. Der Naturrechtler geht nämlich vom damals nicht selbstverständlichen Gedanken aus, dass ein Gesetzbuch auch von der einfachen Bevölkerung gelesen und verstanden werden sollte. Sein Entwurf für das Westgalizische Gesetzbuch richtet sich daher direkt an die Bürger. Es ist ein »Volks-Gesetzbuch«, das nicht nur für gefinkelte Juristen geschrieben ist. Viele Formulierungen wirken beinahe wie ein »väterlicher Ratgeber für das Volk«, und zwar nicht nur für das wachsende Bürgertum in den Städten, sondern auch für die Masse der Bauern und die neue Klasse der Arbeiter. In klarer Sprache werden die Gesetzesnormen anschaulich und beispielhaft formuliert. In seiner Denkschrift aus dem Jahre 1792 an Maria Theresias Nach-Nachfolger Kaiser Leopold II. wird deutlich: »Es wird sich die oesterreichische Gesetzgebung vor der preussischen durch Aufwand von Fleiß und Nachdenken wenigstens den Vorzug erringen können, daß die erste mehr gedrängt und populärer verfasst, und also auch die Gesetze besser begriffen und leichter behalten werden können.«

      Dafür müssen die Paragrafen auch in einer für alle Volksschichten verständlichen Sprache geschrieben werden. Das ist keine Selbstverständlichkeit in einer Zeit, in der am kaiserlichen Hof auch französisch gesprochen wird und Advokaten mit lateinischen Rechtsbegriffen und Ausdrücken argumentieren, disputieren und parlieren. Der Italiener Martini schafft also zunächst eine deutsche Rechtssprache: Einfachheit, Klarheit, Bildhaftigkeit und ein weitgehender Verzicht auf Fremdwörter sind seine Leitschnur. Er ist auch damit fortschrittlich und beinahe revolutionär. Schon der Philosoph Leibniz hatte ja geklagt, die Gelehrten in den deutschen Landen seien »allein mit dem Latein beschäftigt gewesen, und haben die Muttersprache dem gemeinen Lauf überlassen«. In seiner Arbeit an einer deutschen Sprache für die Rechtsprechung und die Verwaltung setzt Martini den Willen von Kaiser Josef II. um. Der Sohn Maria Theresias wollte einen weitgehend zentral gelenkten modernen Staat auf dem Gebiet der Monarchie mit ihrem Dutzend unterschiedlichen Völkern entwickeln. Dazu brauchte es eine gemeinsame Ebene der Kommunikation. Diese sollte eine reformierte deutsche Sprache bieten. Josef II. will Deutsch als alleinige Verwaltungs- und Verkehrssprache durchsetzen. Er hält das für vernünftig. Allerdings scheitert der Kaiser (und seine Nachfolger) an diesem ehrgeizigen Ziel. Das dem Westgalizischen Gesetzbuch folgende ABGB wird in alle Sprachen der Monarchie übersetzt. An der Vielfalt der Völker und Sprachen in ihren Regionen scheitern auch absolutistische Vorsätze.

      Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB) trat am 1. Jänner 1812 in den »Deutschen Erbländern der Österreichischen Monarchie in Kraft«. Franz von Zeiller, der Schöpfer dieses bis heute geltenden Gesetzeswerks, war ein Schüler Martinis. Zu dieser Zeit beherrschte Napoleon noch weite Teile Europas, in denen der französische Code Civil die Rechtsbeziehungen von Millionen Menschen regelte. Das ABGB bildet trotz zahlreicher Novellierungen nach wie vor die Grundlage des österreichischen Zivilrechtssystems, und es ist damit neben dem französischen Code Civil die älteste noch in Kraft stehende, von vernunftrechtlichen Gedanken geprägte Zivilrechtskodifikation. Und Martinis Urentwurf ist selbst dieser Tage nicht völlig überholt. Er wird in zeitgenössischen Streitfällen herangezogen. Die Tiroler Agrargemeinschaften berufen sich in ihrem Kampf um wertvolles (Bau-)Land auf Martini. Demnach stehen Rechte an Sachen dem Staat, den Bürgern und »Gemeinden« zu. In der historischen Juristensprache bedeutete eine »Gemeinde« einen Zusammenschluss von Privatpersonen – ein heute in Vergessenheit geratenes gesetzliches Organisationsmodell.

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