Das Toleranzpatent von 1781 ist ein Meilenstein der österreichischen Geschichte. Durch das Machtwort des Kaisers wird die gesellschaftliche Stellung der Protestanten, der orthodoxen Christen und der Juden verbessert. Die Beschränkungen zur Ausübung ihres Glaubens fallen schrittweise. Der absolute Herrscher öffnet die Universitäten auch für Nichtkatholiken und gibt damit Millionen seiner – noch sind sie es – Untertanen neue Lebenschancen. Obwohl der katholische Monarch weiterhin die staatstragende Bedeutung der römischen Kirche nicht antastet, dürfen fortan Andersgläubige Gotteshäuser errichten und zu dem Gott beten, an den sie glauben. Vor allem die jüdische Bevölkerung erlebt Josef II. als großen Befreier. Die Reformen stehen am Beginn der jüdischen Emanzipation und des Aufstieges des jüdischen Bürgertums zu einer der tragenden Säulen des Kultur- und Wirtschaftslebens der Habsburgermonarchie.
Buchstäblich zum Befreier wird der Kaiser durch die Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern. Der größere Teil der Bevölkerung lebte am Ende des 18. Jahrhunderts am Land, sehr oft in bitterer Not und persönlicher Unfreiheit. Die noch aus dem Mittelalter abgeleiteten feudalen Rechte zwangen die Landbevölkerung zu Arbeit auf den Gütern des Adels, der noch dazu von der allgemeinen Grundsteuer befreit war. Mit der Abschaffung dieser Privilegien und der Befreiung der Bauern zog sich der Habsburger in Wien die Feindschaft weiter Kreise des Adels zu. In den nur zehn Jahren seiner Herrschaft fegten die Reformen Josef II. und seiner Berater mit eisernem Besen durch mittelalterliche Ordnungen.
Der Kaiser brach auch die verkalkten Strukturen der katholischen Kirche auf. Er löste etwa ein Drittel aller Klöster auf, kassierte das Eigentum der Orden und zwang Mönche und Nonnen zur Arbeit in Schulen und Spitälern. Den Erlös aus dem Zwangsverkauf des Kirchenvermögens investierte der Kaiser in einen Religionsfonds, aus dem neue Pfarren bezahlt werden sollten. Die römische Amtskirche wurde so zu einer österreichischen Beamtenkirche umgebaut, der Pfarrer wurde zum »Beamten im schwarzen Rock«. Gegen die Rückständigkeit der Kirche setzte Josef eine staatliche Ausbildung der Religionslehrer und Priester. Die enge Verknüpfung von Staat und Kirche, die Österreich bis in die Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts prägen sollte, geht maßgeblich auf die »Verstaatlichung« der Kirche im Jahrzehnt der Regentschaft Kaiser Josef II. zurück. Wütende Proteste des römischen Papstes Pius VI. ignorierte er. Der Kaiser sperrte das Kirchenoberhaupt anlässlich seines Besuches in Wien praktisch in der Hofburg ein, ließ gar in seinen Gemächern eine eigene kleine Kapelle hinter einer Wandvertäfelung errichten, damit der Heilige Vater seine Gebete von der Öffentlichkeit abgeschirmt verrichten konnte – ja eigentlich musste. Amtierende republikanische Bundespräsidenten zeigen ausländischen Staatsgästen gern die »Einbaukapelle« hinter barocker Vertäfelung. Die Überraschung ist ein Fixpunkt der Führung durch die Prunkräume im Leopoldinischen Trakt der Hofburg.
Niemals zuvor und niemals danach wagte es ein Regierender in Österreich, so tiefgreifende Maßnahmen so rasch umzusetzen. Populär und beliebt wurde der Sohn Maria Theresias damit nicht. Immerhin bewirkten die teilweise brachial durchgeführten Reformen, dass es in der Habsburgermonarchie am Ende des 18. Jahrhunderts zu keiner blutigen Revolution kam, wie in Paris. Ein wichtiges Erbe der kurzen Josefinischen Epoche ist der langlebige österreichische Beamtenstaat, der bei seiner Schaffung ein Attribut eines modernen Staats war.
Schon Josefs Mutter, Kaiserin Maria Theresia, hatte mit dem Aufbau eines schlagkräftigen Beamtenapparats begonnen, da ihr die Unfähigkeit des alten Systems auf die Nerven ging. Maria Theresia begann die Sache systematisch und stiftete eine eigene Anstalt zur Ausbildung eines »Beamtenadels«, die Theresianische Akademie, die es heute noch als Stiftung und höhere Schule in Wien gibt. Zum Todestag der Kaiserin müssen heute noch »Theresianisten« am Grabmonument der Kaiserin in der Kapuzinergruft einen Kranz niederlegen. Von der einst großzügigen Stiftung ist im Zeitenlauf nicht mehr viel geblieben. Das einstige Jagdschloss Maria Theresias »Favorita« beherbergt aber immer noch die Schule, und in der früheren Reitschule des Instituts hat sich die Diplomatische Akademie eingemietet.
Für das Funktionieren des Beamtenapparats bedurfte es klarer Regeln und vollziehbarer Gesetze. Karl Anton Freiherr von Martini wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Der in »Welsch-Tirol« geborene Jurist schreibt praktisch im Alleingang eine neue Zusammenfassung des gesamten Privatrechts. Der ideale Beamte aus der Sicht Kaiser Josefs II. war Teil einer gemäß den präzisen Vorgaben der Gesetzeslage »selbstlos und vorurteilsfrei« arbeitenden Verwaltungsmaschinerie. So ist eine der größten österreichischen Leistungen die Implementierung einer funktionierenden Verwaltung, die viel verspottet, karikiert und kritisiert wurde, doch eine wichtige Stütze der Monarchie bildete.
Martinis »allgemeines bürgerliches Recht« wird von Josefs Nachfolger, Kaiser Leopold II., mit einem »Patent vom 13ten Februar 1797« für das soeben erst erworbene polnische Gebiet Westgaliziens in Kraft gesetzt. Schon die Präambel gibt die Richtung vor: »In der Überzeugung, wie erwünscht und beruhigend jedem Bürger es sey, den Umfang und die Grenzen seiner Rechte und seiner Pflichten gegen seine Mitbürger in einem ordentlich zusammengefassten Gesetzbuche bestimmt zu haben, und dadurch den Genuß seiner Rechte befestigt, die Erfüllung seiner Pflichten erleichtert, seine Person und sein Eigenthum gegen ungerechten Anfall geschützt zu wissen, wird geordnet, die Unterthanen in Westgalizien dieser Wohltat so geschwind als möglich theilhaft zu machen.«
Es ist eine wahrhaft revolutionäre Tat, den Bürgern nicht nur Pflichten, sondern auch klare Rechte öffentlich kundzumachen und damit Untertanen mit Rechten auszustatten. Es ist die Befreiung von Willkür. Es ist eine rechtliche Großtat, auf der unser heutiges Rechtssystem noch immer aufbaut. Was damals eine kaiserliche »Wohltat« war, ist heute ein Menschenrecht. Während in weiten Teilen der Monarchie noch das alte Mariatheresianische System galt, konnten sich die galizischen Neubürger des österreichischen Kaiserreichs auf ein modernes Rechtssystem berufen: »Jedermann sich nach demselben zu achten, nach demselben in allen Verhältnissen des bürgerlichen Lebens seine Handlungen einzurichten, seine Kontrakte abzuschließen, seine lebzeitigen oder letztwilligen Anordnungen zu errichten, seine Rechte zu genießen, seine Pflichten zu erfüllen, und allen seinen Geschäften die zweckmäßige Richtung zu geben, nach selben Recht zu suchen und zu nehmen, die Gerichtshöfe aber hiernach bei vorfallenden Zwistigkeiten Recht zu sprechen und Hilfe zu erteilen wissen.«
In der Form antiquiert, im Inhalt revolutionär fortschrittlich. Kaiser Josef II. und seine Nachfolger machen den Untertan zum Bürger. Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch gibt den Menschen Rechte und Pflichten – allen gleich.
In den »deutschen Erblanden« war ein Jahrzehnt zuvor noch unter Kaiser Josef II. der erste Teil eines geplanten umfassenden allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches in Kraft gesetzt worden. Das Josefinische Gesetzbuch enthielt freilich nur das Ehe-, Erb- und Kindschaftsrecht, aber damit jene ideologisch sensiblen Rechtsbereiche, die besonders im Zeitalter der Aufklärung wichtig geworden waren und die im Sinne der Vernunft die gesellschaftliche Veränderung markieren sollten. So wurde die Rechtsstellung der unehelichen Kinder deutlich verbessert. Die Regelung war dem eher klerikalen »Zeitgeist« um Jahrzehnte voraus. Es gab heftige Kritik an den »unmoralischen« Gleichstellungen zwischen ehelich und unehelich Geborenen. Die ehe- und erbrechtlichen Bestimmungen Josefs II. griffen tief in die Gesellschaft ein. So stellte der Kaiser der Aufklärung erstmals Söhne und Töchter im Erbrecht gleich. Was heute selbstverständlich anmutet, war anno 1786 eine Revolution. Er unterschied auch nicht mehr zwischen Erstgeborenen und später auf die Welt gekommenen Kindern. Josef II. griff mit seinem Erbfolgepatent frontal die Sonderrechte des Adels an, der einen Vorrang der Söhne vor den Töchtern und des Erstgeborenen vor seinen Geschwistern über Jahrhunderte verteidigt hatte. Durch die mit dem neuen Erbrecht erzwungene Aufteilung des Vermögens schwächte das josefinische Erbrecht