Sternstunden Österreichs. Gerhard Jelinek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard Jelinek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783902998910
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      Der Kaiser ließ seine Hofburg, ließ seine Hauptstadt, er ließ Wien im Stich.

      Für die verbleibenden Bewohner, alle jene, die sich eine Flucht mangels Fuhrwerks nicht leisten konnten oder wollten, wirkte der überstürzte Abzug des Hofs wenig ermunternd. Dafür schickte Leopold I. mit Ernst Rüdiger von Starhemberg einen tüchtigen Offizier nach Wien.

      Mit dem Kaiser und einer Falschmeldung, wonach das kaiserliche Heer von den Türken bei Petronell vernichtend geschlagen worden sei, hatten auch die mehr als dreitausend niederösterreichischen Zwangsarbeiter ihr Heil in der Flucht gesucht. Die zur »Robot« verpflichteten Bauern sollten in letzter Minute die jahrzehntelang vernachlässigten Mauern, Palisaden und Basteien instand setzen. Wiens Bevölkerung war zum Mitmachen erst dann zu bewegen, als die Zwangsarbeiter geflohen waren und Graf Starhemberg alle Drückeberger mit dem öffentlichen Hängen bedrohte.

      Wien war in diesen Tagen de facto eine offene Stadt. Kommandant Starhemberg konnte nur über die 1150 Mann der »Stadtguardia« verfügen, die eigentlich für den Wachdienst in der Hofburg zuständig waren. Und die schnell nach Berufsgruppen aufgestellten Bürgerkompanien hätten das »Kraut nicht fett gemacht«. Gastwirte, Bierbrauer und Fleischhauer stellten etwa fünfhundert Mann. Die Studenten-Kompanien standen unter dem Kommando eines tapferen Advokaten und zählten siebenhundert Bewaffnete.

      Erst zu einem denkbar späten Zeitpunkt zogen die zur Verteidigung Wiens bestimmten Truppen des Herzogs von Lothringen in die Stadt ein. Nach langen Diskussionen zwischen Kaiser Leopold und seinem Heerführer wurden dann doch mehr als elftausend Soldaten in die Stadt verlegt. Die sogenannten »Linienregimenter« waren eines Vielvölkerstaates würdig: Schlesier, Schwaben, Kroaten, Tschechen, Italiener, protestantische Franzosen, kaisertreue Ungarn, Dänen, Sachsen und Österreicher kämpften um des Soldes willen in der christlichen Armee. Ehe die Verteidiger Wiens bereit waren, zu den Waffen zu greifen, musste Graf Starhemberg Gehaltsverhandlungen führen. Die Residenzstadt hatte im Juli 1683 gerade einmal 30 000 Gulden in der Kasse. Die Regimenter würden aber pro Monat 40 000 Gulden allein an Sold kosten. Denn die Soldaten verlangten, wegen des doch einigermaßen ungemütlichen Belagerungszustands, einen Gulden mehr pro Monat. Außerdem griffen sie nur gegen Vorauszahlung zur Pike oder Muskete. Die Rettung des »christlichen Abendlands« drohte also an der prekären Finanzlage der Stadt zu scheitern.

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      Wien im Sommer 1683: Sechs Wochen dauert die Belagerung der Stadt durch ein osmanisches Heer. Die Rettung des »christlichen Abendlandes« droht an der Finanzierung zu scheitern.

      Gott sei Dank wusste der Bischof von Wiener Neustadt, Leopold Karl von Kollonitsch, einen Ausweg. Der 39-jährige Kirchenfürst war nicht nur ein gnadenloser Verfolger aller Protestanten und Juden, die er »schädliches Unkraut« nannte, der gefürchtete Richter eines »Bluttribunals« galt auch als gradlinig, unbestechlich, tapfer, und schlau war er auch. Während Wiens Kirchenoberhaupt mit dem Kaiser eilends die Stadt verlassen hatte, übernahm Graf Kollonitsch die undankbare Aufgabe, über das Seelenheil der Belagerten zu wachen. Seine Gebete waren möglicherweise hilfreich, sein »Insiderwissen« noch mehr. Der Bischof aus Wiener Neustadt hatte gehört, dass sein Amtsbruder, der 88-jährige Fürstprimas von Ungarn, György Szelepcsényi, auf der Flucht von Esztergom gegen Westen ein nicht unbeträchtliches Vermögen im fürsterzbischöflichen Haus auf der Seilerstätte versteckt habe. Mit einer schriftlichen Genehmigung des »geheimen Deputiertenkollegiums« der Stadt öffnete Kollonitsch in Begleitung des kaiserlichen Hofkriegszahlamts-Kontrolleurs Johann Michael Eineder das Stadthaus des Kirchenfürsten. Die beiden Herren wurden in den Kellergewölben fündig. Sie arbeiteten zwei Tage und zwei Nächte, ehe sie das gesamte Vermögen des ungarischen Fürstprimas gezählt und in Listen eingetragen hatten. Geld, Juwelen, Gold im Wert von fast 500 000 Gulden wurden im Dienste der Sache beschlagnahmt, ja eigentlich gestohlen. Da aber der greise Bischof bei der Frage nach der Urheberschaft des Schatzes in einem gewissen Erklärungsnotstand war, blieben György Szelepcsényis Protestschreiben an den Papst und Kaiser wirkungslos. Von seinem – noch älteren – ungarischen Amtsbruder Szelepcsényi aus Eger musste der Fürstprimas Spott und Hohn ertragen: Er möge doch Gott danken, dass er, vom schnöden Mammon befreit, die Stadt Wien habe retten können. Er dürfe es sich im Himmel zur höheren Ehre anrechnen lassen.

      Nach der Befreiung Wiens konnten die kaiserlichen Finanzkontrolleure eine ausgeglichene Bilanz ziehen. Alles in allem hatte die Verteidigung der Stadt ziemlich genau so viel gekostet, wie der beschlagnahmte Schatz des Kirchenfürsten wert war, also eine halbe Million Gulden. Dem unfreiwilligen Retter Wiens György Szelepcsényi bleibt die Stadt bis heute ein Denkmal schuldig. Graf Starhemberg hat es später immerhin zu einer Gasse in Wien-Wieden gebracht, dort, wo seine Familie beträchtlichen Grundbesitz hatte.

      Finanziell ausreichend abgesichert, beginnt Starhemberg mit dem Aufstellen der Kanonen auf den zwölf Basteien. Munition ist reichlich vorhanden, auch verdursten werden die Verteidiger Wiens und die verbliebene Bevölkerung nicht. Etwa 170 000 Eimer Wein befinden sich innerhalb der Stadtmauern. Das entspricht fast zehn Millionen Litern: ein Liter für jeden oder jede pro Tag, und zwar ein halbes Jahr lang. Die Stadt ist mit Vorräten wohl versorgt.

      Das osmanische Heer bewegt sich in den entscheidenden Tagen eher gemütlich Richtung Wien, es lässt »den Kaiserlichen« Zeit für die Vorbereitung der Abwehrschlacht. Kara Mustafa ist über den Zustand der Mauern und Basteien schlecht informiert. Er hat viel zu wenige schwere Kanonen mitschleppen lassen, weil diese den Aufmarsch verzögert hätten. Die osmanischen Geschütze sind nicht besonders durchschlagskräftig. Ihre Reichweite ist auf wenige hundert Meter beschränkt, und präzise schießen sie schon gar nicht. Ihre Steinkugeln werden an Wiens Mauerwerk zerbersten. So beginnt nach der Einnahme Hainburgs und nach einem Massaker in Perchtoldsdorf im Süden die Belagerung Wiens am 17. Juli 1683. Kara Mustafa lässt sein für damalige Verhältnisse beeindruckendes Heer die befestigte Stadt in einem Halbkreis von St. Marx bis Nußdorf umzingeln. Die diversen osmanischen Truppenteile schlagen ihre bunten Zelte auf, bauen Lager, errichten Stallungen für die mitgeführten Pferde, Rinder und Kamele. Die in der Stadt verbliebene Wiener Bevölkerung bekommt ein orientalisches Spektakel zu sehen und drängt sich auf den Mauern, auf den Dächern der Häuser, viele klettern auf Bäume, um den riesenhaften orientalischen Jahrmarkt vor den Toren zu bestaunen.

      Eine Belagerung erfolgt im 17. Jahrhundert nach einem genauen strategischen Konzept, das der französische Festungsbaumeister Sébastien Le Prestre de Vauban für den Sonnenkönig Ludwig XIV. ausgearbeitet und selbst während seiner langen Dienstzeit mehr als fünfzig Mal erprobt hat. Praktischerweise fußt auch die Verteidigung einer Festung auf den Rezepten des französischen Architekten. Freund und Feind kennen die Schriften Vaubans. Überraschungen sind somit eher ausgeschlossen.

      Der Belagerer versucht durch das Ausheben Hunderter Laufgräben möglichst nahe an die Befestigungen der Stadt heranzukommen und sie entweder durch Artilleriebeschuss so schwer zu beschädigen, dass seine Soldaten durch entstehende Mauerlücken eindringen können, oder die Fundamente der Basteien zu untergraben und sie mit ungeheuren Ladungen von Schwarzpulver zu sprengen.

      Genauso gehen die Türken vor, und genau das versuchen die Verteidiger zu verhindern. Dabei will Kara Mustafa Wien vorerst gar nicht erobern. Bei der ersten Besichtigung der Stadtmauern muss der Großwesir erkennen, dass er sich getäuscht hat. Wien ist deutlich stärker befestigt, als ihm die Aufklärer berichtet haben. Die zwölf Basteien und die Stadtmauern sind mit den wenigen mitgeführten schweren Kanonen in absehbarer Zeit nicht zu brechen. Kara Mustafa will Wien auch nicht monatelang sturmreif schießen lassen. Er hofft inständig auf eine Kapitulation der Stadt. Nach dem Kriegsrecht der Osmanen muss eine eroberte Festung zur Plünderung durch die siegreichen Truppen freigegeben werden. Erfahrungsgemäß werden dabei die schönsten Beutestücke von der gierigen und unverständigen Soldateska zerstört. Der Großwesir strebt daher die freiwillige Kapitulation der Stadt an. Dann gehört die Beute zuerst dem Oberbefehlshaber und er darf die schönsten Kostbarkeiten vorab plündern. Kara Mustafa sucht daher zuerst den Verhandlungsweg und bietet der Stadt eine milde und korrekte Behandlung an. Der letzte Satz des an Starhemberg übergebenen Schreibens lautet: »Friede dem, der gehorcht.«

      Der Stadtkommandant reagiert gar nicht,