»Und was ist mit Ihrer Tante passiert?«, fragte Friedrich.
»Ich weiß es bis heute nicht, aber ich bin fest entschlossen, es herauszufinden. Sie war meine Lieblingstante, die jüngste Schwester meiner Mutter. Ich glaube, dass meine Eltern etwas über ihr Verschwinden wussten, aber wenn ich sie danach gefragt habe, sind sie mir ausgewichen. Und da sie im letzten Jahr beide kurz nacheinander gestorben sind, kann ich sie nicht mehr danach befragen. Als Tante Ina – sie mochte den Namen Anastasia nicht, ihr Rufname war Irina, wir haben sie nur Ina genannt – also, als sie verschwand, war ich siebzehn Jahre alt. Nach dem Tod meiner Eltern bekam ich plötzlich einen Hinweis, dass sie noch lebt – und zwar in Deutschland. Deshalb bin ich hergekommen, aber ich habe keine weitere Spur von ihr gefunden. Das Bild war der erste Hinweis darauf, dass sie vielleicht doch hier irgendwo in der Nähe lebt.«
Eberhard Hagedorn erschien und flüsterte Johannes etwas ins Ohr. Dieser nickte daraufhin und verließ den Salon mit schnellen Schritten. Er kam zurück, als Leonid gerade sagte: »Ich brauche Hilfe bei meiner Suche, das weiß ich jetzt – und da ich mich hier als Freund aufgenommen fühle …« Er brach ab, als er die Frau erblickte, die hinter Johannes eintrat.
Alle anderen drehten sich um, und da war sie, die Frau von dem Gemälde, für das der junge Graf so viel Geld bezahlt hatte. »Tante Ina!«, sagte Leonid mit erstickter Stimme. Dann stürzte er vorwärts, direkt in die weit geöffneten Arme seiner so lange schmerzlich vermissten Tante.
Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, sagte die Baronin energisch: »Wir lassen Sie jetzt allein – ich nehme an, Sie möchten Ihre Geschichte nur Leonid erzählen, Irina.«
Doch Irina schüttelte den Kopf. »Bleiben Sie«, bat sie. »Sie sind Leos Freunde.«
Leonid schloss sich dieser Bitte an, und so sagte Irina ganz ruhig: »Mein Teil der Geschichte ist schnell erzählt. Ich habe deinen Vater über alles geliebt, Leo – und er hat sich auch in mich verliebt. Ich wusste, wenn ich bleibe, zerstöre ich die Ehe deiner Eltern. Und da ich mit meiner Schwester, deiner Mutter, nicht reden konnte und dein Vater mir mein Vorhaben sicherlich auszureden versucht hätte, bin ich gegangen. Deinem Vater habe ich alles in einem Brief erklärt und ihn angefleht, meine Schwester nicht unglücklich zu machen. Und deiner Mutter habe ich geschrieben, dass ich gehe, weil mir zu Hause alles zu eng geworden ist. Du weißt, wir haben uns nicht besonders gut verstanden, sie und ich, eigentlich haben wir nur gestritten. Ich dachte, sie wird mich kaum vermissen.« Nun hatte sie Tränen in den Augen. »Sag mir, wie es ihnen geht!«
»Sie sind beide gestorben, im letzten Jahr, Tante Ina, kurz hintereinander.«
Als sie das hörte, schlug Irina beide Hände vor ihr Gesicht. »Und ich wusste nichts davon!«, flüsterte sie. »Woran sind sie gestorben?«
»Mama ist krank geworden, und Papa hat dann einen Herzinfarkt erlitten.«
»Hat deine Mutter es erfahren?«
»Ich glaube nicht, nein.« Leonid war nicht weniger erschüttert als seine Tante. »Sie waren glücklich miteinander – ich erinnere mich jetzt, dass Papa nach deinem Verschwinden eine Zeitlang sehr in sich gekehrt war, aber dann hat er sich verändert. Er war sehr liebevoll zu Mama, die beiden hatten dann ein viel innigeres Verhältnis als früher.«
»Das hatte ich gehofft«, flüsterte Irina. »Deshalb bin ich gegangen.« Sie weinte still, dann trocknete sie ihre Tränen. »Unsere Liebe hatte keine Zukunft, das weiß ich heute. Wenn ich geblieben wäre, hätte sie die Ehe deiner Eltern zerstört – und uns trotzdem unglücklich gemacht. Ich musste gehen – und zwar so, dass ich keine Möglichkeit hatte, zurückzukehren.«
Nach diesen Worten wurde es still im Salon. Selbst Konrad, sonst nie um einen frechen Spruch verlegen, blieb stumm und war sichtlich bewegt. Annas Augen wanderten von Irina zu Leonid und wieder zurück, der kleine Fürst betrachtete versonnen das Bild, während Johannes von Thalbach gegen den Wunsch ankämpfen musste, Irina in seine Arme zu ziehen und ihr zu sagen, was er für sie empfand.
Irgendwann räusperte sich der Baron, doch er kam nicht dazu, etwas zu sagen, denn Eberhard Hagedorn erschien an der Tür und sagte mit gedämpfter Stimme: »Frau Baronin, Herr Baron, soeben ist Frau von Bethmann eingetroffen.«
Leonid fuhr herum, gab einen seltsamen Laut von sich und wandte sich dann mit fragendem Blick an Sofia. »Was … wie …?«, stammelte er.
»Clara ist gekommen?«, rief Irina.
»Du kennst sie?«, fragte Leonid.
»Aber ja, wir haben einander sehr gern«, antwortete Irina.
»Aber wie … wieso?« Leonids Blick irrte zurück zu Sofia, es war offensichtlich, dass er die Welt nicht mehr verstand.
Bevor Sofia etwas erwidern konnte, sagte der kleine Fürst: »Am besten wäre es, glaube ich, wenn Sie allein hinausgehen und Clara begrüßen würden, Leo.«
Irina wischte sich die Tränen ab und sagte mit einem Lächeln: »Das ist ein sehr guter Vorschlag. Nun geh schon, Leo!«
Verwirrt verließ er den Salon.
*
Clara wunderte sich, dass niemand kam, um sie zu begrüßen. Sie hatte sich doch angekündigt! Aber vielleicht kam sie jetzt doch ungelegen? Andererseits war sie von Eberhard Hagedorn wie üblich mit ausgesuchter Höflichkeit empfangen worden.
Als sie Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich um – und erstarrte. Denn der Mann, der auf sie zukam, war nicht etwa Baron Friedrich, es war Leonid von Zydar, jener junge russische Graf, der sie seit der Auktion so beschäftigte. »Ich wusste nicht, dass Sie kommen würden«, sagte er anstelle einer Begrüßung. Sein Blick war ernst, ein wenig traurig und ohne jeden Spott – das war das Erste, was ihr auffiel.
»Und ich wusste nicht, dass Sie hier sind«, erwiderte sie.
»Meine Tante hat gesagt, dass Sie sich kennen.«
»Ihre Tante?«
»Anastasia Irina Gräfin von Crolowin – hier in Deutschland hat sie sich Irina Mahler genannt.«
»Ihre Tante«, murmelte Clara. »Deshalb wollten Sie das Bild haben!«
»Ja, deshalb. Ich war auf der Suche nach ihr – und nun habe ich sie ganz plötzlich gefunden. Ich hatte natürlich keine Ahnung, dass Sie sie auch kennen. Und dass mein Freund Jo sie ausfindig gemacht hat. Hätte ich offen über meine Suche nach ihr gesprochen, hätte ich sie wohl viel früher gefunden.«
»Wieso wussten Sie denn nicht, wo sie sich aufhielt?«
»Das ist eine lange Geschichte, ich erzähle sie Ihnen später, ja?«
Clara nickte. »Es tut mir leid«, sagte sie, »dass ich Sie so beschimpft habe.«
»Mir tut es leid, dass ich Ihnen nicht gleich gezeigt habe, wie … wie hinreißend ich Sie finde, Clara. Schon bei der Auktion, als Sie so zornig auf mich waren, hatte ich nur einen Wunsch …«
»Welchen?«, fragte Clara.
»Sie haben mir schon einmal eine Ohrfeige gegeben, als ich mir diesen Wunsch erfüllt habe«, erinnerte er sie.
Sie trat einen Schritt näher. »Versuchen Sie es doch noch einmal«, flüsterte sie.
Er konnte den Blick nicht von ihren Lippen abwenden, die sich zu einem verlockenden Lächeln verzogen, und im nächsten Moment riss er sie in seine Arme und küsste sie so leidenschaftlich, dass Anna und Christian in ihrem Versteck den Atem anhielten. »Der geht ja vielleicht ran!«, flüsterte Anna.
»Und ihr scheint es zu gefallen«, flüsterte Christian zurück.
Er hatte Recht: Clara erwiderte den Kuss des Grafen nicht weniger leidenschaftlich. Ganz offensichtlich hatten die beiden Liebenden die Welt um sich herum vergessen.
Anna und Christian verließen ihr Versteck. Um Clara und