»Aber ich denke ja gar nicht daran!«, entgegnete Johannes. »Ich fand sie sehr attraktiv – und sehr temperamentvoll. Sie würde vermutlich gut zu dir passen.«
Leonid stieß einen langen Seufzer aus. »Sie ist hinreißend, Jo – und sie kann mich absolut nicht ausstehen.«
Das konnte Johannes sich nicht vorstellen, doch das sagte er nicht laut. Zuerst, dachte er, klären wir mal diese Familiengeschichte, und dann sehen wir weiter.
Wenig später tauchte Schloss Sternberg vor ihnen auf, und er lehnte sich zurück und genoss die Aussicht, wie er es jedes Mal tat.
*
»Sofia, ich bin’s, Clara. Seid ihr noch böse auf mich, weil ich euch das Wochenende verdorben habe?«
Die Baronin lachte. »Nein, natürlich nicht, Clara, du kennst uns doch. Solche Dinge kommen vor, man darf nicht immer erwarten, dass alle Gäste miteinander harmonieren. Es hat uns nur für dich leid getan, du hast angespannt gewirkt.«
»Das war ich auch«, gestand Clara. »Um genau zu sein, ich bin es immer noch.«
»Warum denn?«, forschte die Baronin nach.
»Ich …«, Clara stockte. »Sofia, könnte ich noch einmal zu euch kommen? Ich halte es allein in meiner Wohnung nicht aus – und ich muss mit Menschen reden, die ich gern habe, die mich verstehen.«
»Natürlich kannst du kommen, Clara, jederzeit, wenn du denkst, es würde dir bei uns besser gehen.«
»Ich hätte schon letztes Wochenende gern mit dir geredet, aber ich war so durcheinander, und es waren ja auch so viele Leute da …«
Sofia lächelte in sich hinein. Außer Clara waren drei weitere Gäste auf Sternberg gewesen – also wahrhaftig nicht »viele Leute«. »Wann willst du kommen?«, fragte sie.
»Heute Nachmittag«, sagte Clara. »Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen, aber wenn es euch wirklich nicht stört, mache ich mich gleich anschließend auf den Weg.«
Mit dieser Antwort hatte Sofia nicht gerechnet, sie war von einem Besuch irgendwann in den nächsten Tagen ausgegangen. Heute allerdings … Johannes von Thalbach und Graf Leonid mussten jeden Augenblick eintreffen – das ergäbe dann also das zweite ungeplante Zusammentreffen von Clara und Leonid. Aber wenn Anna und
Christian mit ihren Vermutungen Recht hatten, war das ja vielleicht durchaus wünschenswert?
»In Ordnung, Clara«, sagte sie nach kurzem Überlegen. »Wir freuen uns auf dich.«
Sie hatte das Gespräch kaum beendet, als Eberhard Hagedorn die Ankunft von Johannes und Leonid meldete.
*
»Es sieht toll aus, Kalli«, sagte Lili, nachdem sie mit ihrem Verlobten zusammen das Haus einmal umrundet und den neuen Dachstuhl von allen Seiten bewundert hatte. »Eigentlich viel zu schön und viel zu neu für unser schäbiges altes Häuschen.«
»Das bleibt nicht mehr lange so!«, erklärte Kalli. »Wart’s nur ab, die Jungs stehen schon alle in den Startlöchern. Am Wochenende fangen wir mit den Mauern und dem Verputz an.«
»Aber das Dach ist doch noch gar nicht gedeckt!«, rief Lili.
»Bis dahin schon«, lachte Kalli. Er strahlte vor Stolz – und vor Verliebtheit, und Lili fragte sich manchmal sorgenvoll, ob so viel Glück, wie sie es gerade empfand, nicht zu viel für einen einzelnen Menschen war. Hätte sie nur Irina Mahler ein wenig davon abgeben können!
»Was ist?«, fragte Kalli besorgt. »Du machst auf einmal so ein trauriges Gesicht.«
»Wegen Frau Mahler«, erklärte Lili. »Ich mache mir Sorgen um sie.«
Kalli zog sie an sich. »Du hast ein gutes Herz, Lili.«
»Das hat Frau Mahler auch – und Kummer noch dazu. Ich habe im Augenblick überhaupt keinen Kummer, ich bin nur glücklich.«
»Meinetwegen?«, neckte er sie.
Ihr Gesicht glühte schon wieder, als sie nickte.
Er küsste sie und ließ sich auch nicht dadurch beirren, dass Patrick lauthals schrie: »Sie knutschen sich schon wieder ab!« Als Lili ihn zurückschieben wollte, hielt er sie fest und flüsterte: »Daran werden sie sich gewöhnen müssen, Lili. Außerdem dauert es nicht mehr lange, dann wird Patrick selbst knutschen – und wir werden uns rächen.«
Sie musste lachen, dadurch verflog ihre Verlegenheit. Nun war sie es, die ihn küsste, ihrem jüngeren Bruder zum Trotz. Kalli hatte Recht: Ihre Geschwister mussten sich daran gewöhnen!
*
»Ich bin’s«, sagte Irina. »Ich bin jetzt bereit, mit Leonid zu sprechen, aber ich weiß nicht einmal, wo und wie ich ihn erreichen kann, Herr von Thalbach.«
Johannes war so glücklich, ihre Stimme zu hören, dass er zunächst nur lächelte, statt etwas zu erwidern. Sie hatte ihr Versprechen gehalten und ihn angerufen!
»Herr von Thalbach? Sind Sie noch dran?«
»Ja, natürlich, ich freue mich so sehr, dass Sie mich anrufen, Frau Mahler, das kann ich Ihnen gar nicht sagen. Und nun werden wir beide ein wenig konspirativ vorgehen – zufällig bin ich nämlich gerade mit Leonid auf Schloss Sternberg. Und zufällig hat er das Bild bei sich, weil er uns alle um Mithilfe bei der Suche nach Ihnen bitten möchte.«
»Oh«, sagte Irina.
»Setzen Sie sich ins Auto und kommen Sie her«, drängte er. »Den Rest übernehme ich.«
»Herkommen? Nach Sternberg? Aber …«
»Überlassen Sie das mir. Werden Sie den Weg finden?«
»Natürlich, Sternberg ist doch überall ausgeschildert, so weit ist es außerdem nicht. Aber ich bin nicht sicher, ob das eine gute Idee ist.«
»Haben Sie Vertrauen zu mir?«, fragte Johannes. »Obwohl wir uns noch nicht besonders gut kennen?«
Ihre Antwort kam von Herzen. »Ja, das habe ich.«
»Dann setzen Sie sich in Ihr Auto und kommen Sie her.«
Sie schwieg mehrere Sekunden lang, bis sie endlich sagte: »Gut, ich komme.«
Nach dem Gespräch fällte Johannes blitzschnell einige Entscheidungen. »Anna, Christian, wartet bitte einen Augenblick.«
»Aber Leonid will uns gleich was erzählen – zu dem Bild, und das wollen wir hören. Wir haben nicht viel Zeit, Jo«, erklärte Anna.
»Die braucht ihr auch nicht.« Johannes lächelte. »Ich will euch auch was erzählen – und auch zu dem Bild. Außerdem brauche ich eure Hilfe, wir müssen Leonids Erklärungen ein bisschen hinauszögern – schafft ihr das?«
»Und wieso?«, wollte der kleine Fürst wissen.
Er erklärte ihnen die Lage. Es dauerte nicht lange, bis ihre Augen strahlten wie vier kleine Sonnen.
*
»Ihr habt die Auktion ja alle miterlebt und wisst daher, dass ich für dieses Bild einen horrenden Preis bezahlt habe«, sagte Leonid, als sich Familie von Kant, Christian und sein Freund Johannes endlich in einem der Salons versammelt hatten. Es hatte noch einige Aufregung um Togo gegeben, weshalb Leonid ein wenig hatte warten müssen, bis sie vollzählig gewesen waren. »Es gab einen guten Grund, weshalb ich das Bild unbedingt haben wollte, denn es zeigt meine Tante Anastasia Irina, die vor rund elf Jahren spurlos aus St. Petersburg verschwunden ist.«
»Wie bitte?«, rief Sofia. »Kannten Sie denn das Bild, Leonid?«
Der junge Graf nickte. »Ja, natürlich kannte ich es. Mein Vater hat es gemalt, er hat uns alle gemalt. Er war begabt, aber die künstlerische Laufbahn blieb ihm versagt, weil er sich um die Geschäfte der Familie kümmern
musste. Darunter hat er sehr gelitten. Das Bild hing jahrelang bei uns in der