Ehe die Stimmung ins Sentimentale zu kippen drohte, erkundigte sie sich. »Wo ist eigentlich Bambi?«
»In der Schule bei der Probe. Sie ist mit Feuereifer dabei und ganz stolz darauf, die Hauptrolle spielen zu dürfen, unsere Kleine.«
Ricky liebte ihre kleine Schwester über alles. Doch je älter Bambi wurde, umso unwohler fühlte Ricky sich, vor allem dann, wenn sie sah, mit welcher Selbstverständlichkeit sich Bambi als Auerbach-Spross fühlte und sogar allen Ernstes behauptete, ihrer Mami immer ähnlicher zu sehen.
Irgendwann mussten sie es Bambi sagen, und Ricky wünschte sich von ganzem Herzen, sie würden es bald tun.
Sie konnte ihre Eltern in dieser Hinsicht wirklich nicht verstehen. Sie saßen auf einem Pulverfass, das jeden Augenblick in die Luft fliegen konnte.
Nur wenige Menschen wussten, dass Bambi adoptiert war. Wenn nun jemand von denen, nicht einmal in böser Absicht, plauderte, und Bambi bekam es zufälligerweise mit?
Das wäre nicht auszudenken, es würde einen riesengroßen Schaden an Bambis empfindsamer Seele anrichten.
Ricky wurde ganz anders bei diesem Gedanken, und deswegen verdrängte sie es sofort wieder und begann stattdessen über ihre Kinder zu sprechen.
Das war ein Thema, über das ihre Eltern sich gern unterhielten und von dem sie nicht genug bekommen konnten.
»Wenn ihr wollt, dann könnt ihr sie euch übers Wochenende holen«, schlug Ricky vor.
Sie wusste, dass sie damit nicht nur ihre Eltern, sondern auch vor allem ihre Kinder glücklich machte, die ihre Großeltern und die nebenan wohnenden Urgroßeltern über alles liebten.
Ricky wusste, dass den Kindern so mancher Riegel Schokolade zugeschoben wurde, dass sie sich im Fernsehen eine Kindersendung ansehen durften, die verboten war, dass man es mit den Zubettgehzeiten nicht so genau nahm und dass natürlich das Lieblingsessen gekocht wurde, zu dem es dann Limo zu trinken gab.
Ricky und Fabian waren sich darin einig, es zuzulassen, denn ihre Großeltern hatten es auch nicht anders gemacht, und es hatte ihnen nicht geschadet.
Natürlich wurde dieser Vorschlag ganz begeistert aufgenommen.
Wenn die Enkel kamen, ob nun die von der Tochter oder die vom Sohn, dann legte Professor Werner Auerbach die Arbeit nieder und war nur noch für die Kinder da.
Für seine eigenen Kinder hatte er sich nicht die Zeit nehmen können, weil er als international gefragter Wissenschaftler stark angespannt gewesen war. Die Erziehung der Kinder hatte in erster Linie bei Inge Auerbach gelegen, die das allerdings ganz großartig gemacht hatte. Sie war eine wunderbare Mutter gewesen, war es immer noch. Natürlich war sie das auch als Großmutter.
Ricky wunderte sich allerdings manchmal, mit welcher Hingabe ihr Vater sich um die Enkel kümmerte. Er war ein guter Vater gewesen, doch als Großvater war er ganz großartig.
Ricky besuchte ihre Eltern und Großeltern im Sonnenwinkel sehr gern, und bedauerte manchmal, nicht mehr Zeit bei ihnen verbringen zu können. Und es würde leider noch weniger werden, wenn sie erst einmal ihr Studium aufgenommen hatte, und das würde sehr bald sein.
Sie konnte sich nur damit trösten, was Fabian immer sagte, nämlich, dass es nicht die Quantität machte, sondern die Qualität.
Ricky umarmte ihre Eltern und versprach, die Kinder vorbeizubringen.
Dann musste sie sich sputen.
Oma Holper war zwar großartig, doch überfordern durfte sie die alte Dame auch nicht.
Adieu, lieber Sonnenwinkel, murmelte sie vor sich hin, ehe sie in ihr Auto stieg, eine richtige, nicht mehr ganz neue Familienkutsche, und davonfuhr.
Sie atmete erleichtert auf, dass sie das jetzt hinter sich gebracht hatte und ihre Familie Bescheid wusste.
Um ihre Großeltern hatte sie sich keine Sorgen gemacht, deswegen war sie auch zuerst zu ihnen gegangen. Die waren jung im Herzen, klar und lebendig im Denken. Sie konnten sich auf alle Wechselfälle des Lebens einstellen. Das mochte daran liegen, dass die von Roths Kriegsopfer waren. Sie hatten alles verloren, ihre Heimat, ihren Besitz, ihr scheinbar vorbestimmtes Leben als reiche Gutsbesitzer, angesehen, mit einem guten, klangvollen Namen.
Nur der Name war ihnen geblieben, doch darum hatte niemand auch nur einen Pfifferling gegeben, zumal der Adel eh abgeschafft worden war und nur noch ein Bestandteil des Namens war.
Sie waren an ihrem Schicksal nicht zerbrochen und hatten sich von bitterer Armut mit Fleiß und Ausdauer hochgearbeitet, dafür viele Entbehrungen auf sich genommen. Aber ihren Stolz, den hatten sie nie verloren, auch nicht ihren Glauben an die Kraft des Guten, vor allem nicht an die Kraft ihrer Liebe.
Sie hatten es geschafft, und dabei waren sie sich immer treu geblieben.
Sie hatten die Familie zusammengehalten, ihre Tochter zu einem wunderbaren Menschen erzogen, sie hatten sich das Haus nebenan kaufen können und es zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht, der ihnen ein sorgenfreies Leben ermöglichte.
Und nun wollte ihr Opi sie auch noch unterstützen.
Ricky hatte Tränen in den Augen.
Florian und sie würden es auch so schaffen, doch Ricky wusste, dass sie das Angebot ihrer Großeltern nicht ablehnen durfte, die wären tödlich beleidigt gewesen. Sie genossen es, helfen zu können. Und ihr Opi sagte immer, es sei besser, mit einer warmen Hand zu geben und dass man nichts mitnehmen könne.
Ach ja, die Auerbachs und die von Roth …
Ricky wusste, was sie an ihrer Familie hatte, die herzlich und liebevoll war, großzügig und hilfsbereit.
Ihre Schwiegereltern waren auch sehr nett, da konnte sie sich nicht beklagen, doch sie waren emotional ziemlich gebremst und, obwohl sie viel Geld besaßen, auch geizig.
Welch ein Glück, dass Florian so ganz anders war, der im Scherz sogar manchmal sagte, dass er nach der Geburt wahrscheinlich vertauscht worden sei, weil er so überhaupt nicht auf seine Eltern kam, da könnte er eher ein Auerbach sein.
Und Stella.
Die schlug vermutlich manchmal über die Stränge, weil sie nicht mehr durch ihre Eltern kontrolliert werden konnte. An einer Ampel musste Ricky halten, und während sie darauf wartete, dass wieder Grün wurde, fragte sie sich, was ihre Schwiegereltern wohl dazu sagen würden, dass sie studieren wollte.
Ricky hatte keine Ahnung, weil man deren Reaktionen nicht immer voraussehen konnte.
Aber Sorgen machen musste sie sich nicht, Florian würde das übernehmen, und der war ganz auf ihrer Seite und würde seinen Eltern schon klar machen, dass sie sich da nicht einzumischen hatten.
Ihr Florian …
Sie war glücklich mit ihm. Er war ein fantastischer Ehemann und ein fürsorglicher, liebevoller Vater.
Mehr konnte man sich nicht wünschen, sondern nur darauf hoffen, dass es noch lange, lange so bleiben würde.
Vor Schicksalsschlägen war niemand sicher, und es konnte jeden treffen, wie beispielsweise ihre Freundin Lori, die mit ihrem Ehemann Heiner so unbeschreiblich glücklich gewesen war.
Ein Jahr waren die beiden verheiratet gewesen, hatten Pläne für die Zukunft geschmiedet, und dann hatte das Schicksal unerbittlich zugeschlagen. Heiner war unschuldig in einen Autounfall verwickelt worden, bei dem es eine Massenkarambolage gegeben hatte. Die besondere Tragik war, dass es zwar viele Verletzte gegeben hatte, Totalschäden bei den Fahrzeugen, doch nur einen einzigen Todesfall … Heiner.
Warum gerade er?
An dieser Frage wäre Lori beinahe zerbrochen, und es war gut, dass sie sich direkt in psychiatrische Behandlung begeben hatte. Vermutlich hätte es sonst ein böses Ende genommen, weil Lori stark suizidgefährdet gewesen war.
Allmählich