Liva bemerkte erst jetzt, dass der Arzt einfach weiterredete. »… Wir mussten sie in ein künstliches Koma versetzen, dass die Hirnschwellung zurückgeht.«
»Koma«, wiederholte Liva.
»Ja, der Zustand Ihrer Mutter ist sehr kritisch, Frau Lohrey.«
Liva hörte die Stimme des Arztes nur noch gedämpft. Ein Einbruch? Daheim? Was gab es dort schon zu holen – ihre Mutter hatte doch nie etwas von Wert besessen. Nicht mal eine Stereoanlage oder ein Computer befand sich in dem kleinen, windschiefen Häuschen an der Hohen Leuchte im Ortsteil Ockershausen, das ihre Vorfahren zu einer Zeit gebaut hatten, als der kleine Stadtteil noch gar nicht zu Marburg gehört hatte. Altes Fachwerk, von außen schön verputzt, innen marode.
Hatte der Arzt sie gerade etwas gefragt? »Wie bitte?«
»Können Sie schnellstmöglich nach Marburg kommen?« Pause. »Gibt es noch jemanden, den ich informieren muss? Einen Ehemann vielleicht?«
Liva zögerte und sagte dann: »Nein, gibt es nicht.« Sie notierte sich noch Station und Zimmernummer und den Namen des Arztes. Naumann.
»Ich bin schon unterwegs.« Dann legte sie auf. Es war jetzt kurz vor neun Uhr. Auch wenn sie sich sofort auf den Weg machte, würde sie erst weit nach Mittag in Marburg sein.
Liva zog den schwarzen Rollkoffer aus dem Schrank, den sie sich letztes Jahr für eine England-Rundreise gekauft hatte, die sie nie angetreten hatte. Was hatte sie in den letzten Jahren, seit sie zu Hause ausgezogen war, schon alles gewollt und nicht gemacht. Manchmal fühlte sie sich wie gelähmt in ihrem Sein. An manchen Tagen war sie einfach nur froh, wenn wieder ein Tag rum war. Aber all das war unwichtig in Momenten wie diesen. Zwei Jeans, zwei T-Shirts, einen Pullover, Kulturbeutel und Unterwäsche lagen jetzt kreuz und quer im Koffer. Ihr Laptop obenauf. Wie lange würde sie wegbleiben? Einen Tag? Eine Woche? Ihr altes und ihr neues Leben – nur drei Zugstunden voneinander entfernt – und doch waren es Lichtjahre.
Als Liva ein Geräusch aus dem Bad hörte, erschrak sie. Hatte da nicht eben jemand die Toilettenspülung betätigt? Und jetzt wurde Wasser in die Badewanne gelassen. Ein fröhliches Pfeifen drang an ihr Ohr, eine ihr völlig unbekannte Melodie. Panik ergriff sie, Scham. Jetzt fiel es ihr plötzlich wieder ein: Da war ein Junggesellenabschied im Fortuna gewesen. Und da hatte ihr dieser süße Typ erzählt, dass er am Wochenende heiraten würde. Seine besoffenen Freunde hatten genug mit sich selbst zu tun gehabt. Und dann war die unvermeidliche Frage gekommen, ob sie beide nicht lieber wohin gehen könnten, wo es ruhiger sei. Und dieser Mann befand sich offenbar gerade in ihrem Badezimmer. Was er noch nicht wusste: Er würde zu Hause baden müssen …
Sie hatte vollstes Verständnis für seine Reaktion. Wenn die Frau, mit der man die Nacht verbracht hat, plötzlich an die Tür pocht und in strengem Ton gebietet, sich vom Acker zu machen, ist das sicher nicht sehr lustig. Der Mann im Bademantel – und das hielt Liva ihm zugute – hatte es dennoch mit Fassung getragen, aber das fröhliche Pfeifen war ihm vergangen. So schnell sei er noch nie irgendwo rausgekehrt worden, hatte er vor sich hingemurmelt.
»Sehen wir uns denn mal wieder?« Nachtragend war er nicht und offenbar ein Romantiker, der in Verdrängung die Note 1+ verdient hatte. Der angehende Bräutigam hatte offenbar vergessen, dass er in 72 Stunden schon unter der Haube sein würde.
»Wenn du mich am Samstag zu deiner Hochzeit einladen möchtest, komme ich gerne«, Liva war selbst überrascht gewesen über ihre eigene Schlagfertigkeit. Erst, als sie sicher sein konnte, dass er das Haus wirklich verlassen hatte, hatte auch sie sich auf den Weg zum Bahnhof gemacht. Wobei sie – auch mit etwas zeitlichem Abstand – sagen musste, dass er auch noch am helllichten Tag ein Sahneschnittchen war. Wie er da so im Bad vor ihr gestanden und sie so lieb angeschaut hatte. Aber der Gute war ja eh bald vom Markt. Und sie musste sich jetzt erst mal um ihre Mutter kümmern.
Die Regionalbahn ab Frankfurt hielt heute gefühlt an jeder Bushaltestelle. Friedelhausen. Niederwalgern. Niederweimar. Noch zwei Stationen bis zum Marburger Hauptbahnhof. Jedes Fahrgeräusch verursachte ein lautes Dröhnen in ihrem Kopf, das Quietschen der alten Bremsen ließ sie jedes Mal zusammenzucken. Sie hatte zwar eine aktuelle Tageszeitung auf den Knien liegen, aber an Lesen war nicht zu denken. In ihrem Kopf rotierte es. Unzählige Male war sie diese Strecke von Köln über Frankfurt nach Marburg gefahren. Doch nie mit einer solchen Angst im Bauch, die sich umso mächtiger anfühlte, je näher sie ihrem Ziel kam. Was, wenn ihre Mutter, deren Leben gerade auf des Messers Schneide stand, die Augen für immer zumachte, ohne sich von ihr zu verabschieden? Das konnte, das durfte nicht passieren. Wenn Liva nicht schnell genug in der Klinik auf den Lahnbergen sein konnte, würde sie sich das nie verzeihen.
Erst als sie von Weitem das Schloss im Nebel ausmachen konnte, wurde sie innerlich ruhig. Als Kind hatte sie sich eingebildet, dass das neunhundert Jahre alte Gebäude über der Stadt alldiejenigen beschütze, die in seinem Schatten lebten. Es war in ihren Träumen immer ein freundliches Schloss gewesen, mit guten Kräften. Bis zu Alex’ rätselhaftem Verschwinden hätte sie sich nicht vorstellen können, dass in dem beschaulichen Städtchen an der Lahn überhaupt etwas Schlimmes geschehen konnte. Eins stand fest: Sie hatte sich hier viel zu lange viel zu sicher gefühlt.
Auf den ersten Blick hatte sich der Marburger Hauptbahnhof kaum verändert. Liva wurde ganz melancholisch, als sie aus dem Zug stieg. Wer hätte gedacht, dass sie doch so schnell wieder hierher zurückkehren würde? Sie erinnerte sich noch gut, wie sie – mit dem Gefühl der Trauer, aber auch einer großen Hoffnung, dass alles irgendwie wieder normal werden würde – mit ein paar Habseligkeiten nach Köln aufgebrochen war.
Während Liva mit der Menschenmasse – vor allem mit großen Rucksäcken bepackte Erstsemester – zum Ausgang drängte, schweifte ihr Blick rüber zum Ortenbergsteg, der über die Schienen führte. Sie sah hoch zum Kontrollturm, in dem ein Typ von der Bahn saß, den man über eine Sprechanlage erreichen konnte. Ein Mythos! Denn wie oft hatten Alex und sie kichernd diese Sprechtaste ausprobiert, ohne, dass sich jemals jemand gemeldet hatte. Dabei kannten sie die besten Bahnwitze und hatten eine Menge lustiger Fragen gesammelt. Aber die dort oben hatten offenbar ein gutes Fernglas und sahen, wer es ernst meinte oder wer sich einen Scherz erlaubte. In dem riesigen Bau dahinter befanden sich seit ein paar Jahren Proberäume und diese Disco, in der Alex seine große Liebe kennengelernt hatte. Melli. Ab dem Zeitpunkt, als die beiden zusammengekommen waren, hatte er dann Besseres zu tun gehabt, als mit der kleinen Schwester abzuhängen. Sogar von Zusammenziehen war nach kurzer Zeit die Rede gewesen. Da hatte es plötzlich einer ganz eilig gehabt, sich aus dem Gefängnis seiner Kindheit zu verabschieden, spotteten ein paar alte Freunde. Was er nie vernachlässigte, war sein Studium. Das hatte »Prio 1«, wie er immer gesagt hatte. Liva bewunderte das, wie konsequent er war.
Ihre Augen suchten den gesamten Bahnhofsvorplatz nach einem Taxistand ab. Das Areal hier war sehr viel größer und lichter geworden, seit man die Straßenführung verändert hatte. Ein Taxi war dennoch nicht auszumachen, stattdessen zeigte die Anzeige vorne an der Bushaltestelle einen Bus zu den Lahnbergen an. Den würde sie wohl nehmen müssen. Zehn ewige Minuten Wartezeit.
Ein Typ mit langen Rastas saß wenige Meter entfernt auf der Bahnhofstreppe und trommelte auf einer Bongo. Die wilden Haare flogen ihm dabei um den Kopf, seine schlanken Arme steckten in einem weiten, bunten Hemd. Liva betrachtete ihn genauer. Das gab es doch gar nicht. Das war doch … »Gunnar?«
In Zeitlupe drehte der Typ den Kopf, die flinken Hände weiter am Instrument. Ein unsicheres Grinsen entstand, verging, bildete sich erneut. Der Typ stand unter Drogeneinfluss, so viel war klar. »Liv! Howdy?« Er grinste jetzt schief und schien sich gar nicht zu wundern, dass er sie hier traf. Für Gunnar, der in ihrer Nachbarschaft groß geworden war, bevor