Aphrodite war zornig auf die Einwohner, weil sie zu sehr mit ihren alltäglichen Geschäften beschäftigt waren, sie vergessen hatten, es ihr gegenüber an Respekt mangeln ließen und ihr die Ehrengaben vorenthielten.
Auf der Insel herrschte nur noch Alltagstrott. Man arbeitete und erledigte die notwendigen Dinge, bevor man am Abend müde zu Bett ging: Auf Lemnos verlief die Zeit ohne Überraschungen und ohne Unbekanntes, Gefühle waren verbannt.
Ein schreckliches – erbarmungsloses – Unglück war über die Insel hereingebrochen. Die Männer waren ihrer Frauen überdrüssig geworden und liebten ihre Töchter nicht mehr, sondern hegten ein heftiges und irrationales Verlangen nach den jungen Frauen, die sie von den Küsten gegenüber der Insel raubten.
Da beschlossen die bejammernswerten und in ihrer Eifersucht schlimm unersättlichen Frauen von Lemnos, das ganze männliche Geschlecht auszurotten, damit sie von ihren Söhnen, Vätern, Ehemännern nicht länger gedemütigt und vernachlässigt werden konnten.
Sie brauchten sie nicht, um zu überleben, sie dachten: Wir können auch selbst Rinder und Schafe hüten, Felder pflügen und sogar Waffen tragen.
Anstatt die verlorene Liebe zurückzuerobern, beschlossen die Frauen, auf immer darauf zu verzichten; mit eigenen Händen brachten sie die um, die sie geliebt hatten oder hätten lieben können.
Sie glaubten, ohne Liebe in Sicherheit zu sein, doch mit jedem Tag wurde ihre Unsicherheit größer – das geschieht, wenn man Gefahren unter den Teppich kehrt, statt sich ihnen zu stellen.
Die Frauen von Lemnos fristeten einsam ihr Leben und vor allem hatten sie Angst, dass jemand ihr Verbrechen entdecken könnte.
Als sich die Argo der Insel näherte, strömten die Frauen bewaffnet ans Ufer, um herauszufinden, wer die Fremden waren, die auf ihrer Insel an Land gingen, und welche Absichten sie hatten – jeder Mann auf Erden erinnerte sie an die begangene Straftat und war gleichzeitig ein Versprechen, sich vor einem Leben in Einsamkeit und Entbehrung zu retten.
Und in Ratlosigkeit strömten sie dahin, sprachlos; eine derartige Furcht schwebte über ihnen.
Ahnungslos entsandten die Argonauten einen Boten, der den Frauen mitteilen sollte, dass sie nur eine Nacht in Lemnos bleiben und dann wieder abfahren wollten.
Doch am Morgen darauf konnten die Helden nicht auslaufen, weil der Boreas blies.
Die Frauen hatten sich derweil, unter der Führung ihrer Königin, der schönen, aber mittlerweile verhärteten Hypsipyle, in der Stadt versammelt, um zu entscheiden, was zu tun sei.
Sie setzte sich auf den steinernen Thron ihres Vaters, des alten Thoas, des einzigen Mannes, der der Katastrophe entgangen war. Hypsipyle hatte ihn in eine Holzkiste gesetzt und der Flut anvertraut; Fischer hatten ihn gerettet.
Nicht aus schlechtem Gewissen hatte das Mädchen dem Vater geholfen, sondern weil die Liebe trotz allem noch in ihr lebendig war, wenn auch unterdrückt, verleugnet, verachtet. Die Liebe lebt immer in uns, auch wenn wir ihre Stimme nicht hören wollen – und je mehr wir sagen nie wieder, desto lauter wird ihr Ruf.
Nervös und ängstlich schlug die Königin den Frauen vor, den Argonauten alle möglichen Gaben zu schicken; Speisen, süßen Wein, was auch immer auf dem Schiff fehlte, damit die Männer außerhalb der Mauern blieben und nicht wagten, sich ihnen zu nähern.
Wenn sie die Stadt betreten hätten, hätten sie nämlich herausgefunden, was die Frauen ihren Männern angetan hatten. Denn wir haben ein verwegenes Werk betrieben!
Aber vor allem hätten die Frauen von Lemnos dann nicht länger ignorieren können, dass das Schicksal ihnen eine Chance bot, wieder zu leben und zu lieben.
Hypsipyle schlug also vor, Glück vorzuspielen, um das reale Unglück zu verschleiern.
Sich zum Lächeln zu zwingen, während sie im Grunde aus Schmerz und über ihren Irrtum weinen wollten.
So zu tun, als ob nichts wäre, anstatt zu versuchen, alles zu ändern.
Sie sprach, und keine wagte zu antworten.
Traurig und schweigend saßen sie da, den Blick zu Boden geschlagen, die Hände im Schoß, und dachten daran, dass sie nie Kinder haben, nie die Liebe kennenlernen würden. Sie fantasierten wie kleine Kinder, denn sie waren kleine Mädchen geblieben, die sich dafür entschieden hatten, auf immer die Beständigkeit auszumerzen, die die Liebe erfordert, und in Ruhe, ohne Störung zu leben, doch ihre stillen Nächte waren von Alpträumen erfüllt und nicht von Träumen.
Plötzlich erhob sich eine Alte, hinkend und auf einen Stab gestützt.
Mitten in der Versammlung, mit gebeugtem Rücken, sprach sie zu den Frauen von Lemnos:
Wenn das aber einer der Seligen abwenden sollte, so bleiben doch hinterher zehntausend andere Leiden, größer als eine Schlacht. Wenn nun die alten Frauen dahingegangen sind und ihr jüngeren kinderlos ins verhasste Alter gekommen seid, wie werdet ihr dann leben, ihr Unglückseligen? Werden die Rinder sich von selbst ins Joch spannen und euch den die Erde zerschneidenden Pflug durch das Brachland ziehen und sogleich, wenn das Jahr sich erhebt, die Ernte abmähen? […] Die Rüstigeren aber fordere ich auf, das im Ganzen zu bedenken; denn jetzt liegt doch Abwehr bereit zu euren Füßen.
Befreiender Applaus brach aus, denn den Frauen gefiel die Rede: Endlich wagte es eine, die Schwächste von ihnen, zuzugeben, wie sie in Einsamkeit und Unabhängigkeit lebten.
Die Frauen von Lemnos waren allein, aber vor allem unglücklich.
Glück oder Unglück sind fast nie eine Gegebenheit, ein Preis oder ein Fluch des Lebens, ein unveränderlicher Zustand der Freude oder der Verzweiflung.
Ihr tieferer Sinn verbirgt sich vielmehr in der Veränderung: in dem, was wir, eben weil wir glücklich oder unglücklich sind, für uns oder die anderen in unserer Umgebung tun können oder nicht.
Glücklich, auf Lateinisch felix, hat denselben Wortstamm (fe-) wie fecundus: fruchtbar, produktiv, ergiebig.
Fruchtbar sind nicht nur die Weizenfelder. Wir sind fruchtbar, die wir dank des Glücks plötzlich Gesten oder Taten vollbringen, die wir uns nicht zugetraut hatten.
Glücklich zu sein bedeutet also nicht, keine Probleme oder Schwierigkeiten zu haben und in einem unerschütterlichen Zustand der Ruhe und Entspannung zu leben – oder gar des relax, wie es in Prospekten von Hotels an exotischen Stränden heißt.
Glück ist das reine Gegenteil davon: Es ist energisches Handeln, die Freude am Tun, die Lust an der Veränderung – fruchtbar zu sein, die Blumen blühen zu sehen, die wir sind.
Und Unglück ist das reine Gegenteil: die Unfähigkeit, sich in Bewegung zu setzen, unangenehme Gedanken abzuschütteln, die Unfähigkeit, auch nur einen weiteren Schritt zu tun.
Unglücklich zu sein bedeutet, nichts zu tun, nichts zu sagen, niemanden zu lieben – die Fruchtbarkeit des Lebens abzuweisen, das immer wieder ungeahnte Chancen bietet, und die Unfruchtbarkeit und Ereignislosigkeit vorzuziehen.
Das eine ist Tätigkeit, das andere Untätigkeit. Das eine ist eine Aufwärtsbewegung, das andere ein Absinken.
Sagt man nicht etwa „Freudensprünge machen“ und im Gegenteil dazu „sich hängen lassen“?
Es fällt uns schwer anzuerkennen, dass unser Glück oder unser Unglück kein Zustand, sondern ein ständiger Prozess, also Bewegung, sind.
Oft haben wir das Gefühl, dass unsere Traurigkeit ewig währt und das Glück nur ein kurzes, flüchtiges Intermezzo ist. Vor beidem haben wir Angst.
Fast immer erkennen wir den Mechanismus nur, wenn wir zurückblicken, nie, wenn wir nach vorne blicken – wenn unser Gedächtnis uns einen Zeitraffer vorgaukelt wie in einem Dokumentarfilm, in dem Samen in Sekundenschnelle zu Früchten werden, wobei die Zeit, die Jahreszeiten und