Nein, ich glaube nicht, dass wir die Sprache verlieren, wie Sie in Ihren Briefen geschrieben haben, und auch nicht, dass man eine alte Sprache kennen muss, um nicht wortlos vor dem Schauspiel des Lebens zu stehen.
Und noch weniger glaube ich, dass wir die Intensität des Liebens, Begehrens, Leidens verlieren, die Fähigkeit, uns Fragen zu stellen und Zweifel zu beseitigen, wie Sie befürchten.
Wir verlieben uns, hoffen, empfinden Schmerz wie Medea und Jason, doch heutzutage machen wir das lautlos, um nicht zu stören. Warum fragen die wenigen, die den Mut haben, zu telefonieren, statt eine Mail zu schreiben: Störe ich dich, anstatt zu fragen: Wie geht’s dir?
Indem wir immer weniger Worte verwenden, um über uns zu sprechen, und wenn, dann immer dieselben, legen wir vielmehr eine Grenze für unsere Sprache fest. Die Grenzen unseres Sprechens werden immer enger und unsere Welt wird jeden Tag kleiner. Stummer.
Limes bedeutete im Lateinischen nicht nur Grenze, sondern auch Querweg, Weg, also nicht befestigte Straße. Heutzutage versuchen wir mit unseren Worten, sie nicht zu begehen. Aus Angst vor dem, was wir jenseits der Grenze finden könnten, überschreiten wir sie nicht.
Wir brausen auf der Autobahn der Banalität dahin.
Wenn das Reden die Macht hat, die Dinge wirklich zu machen, wer sind wir dann wirklich?
Lieber es nicht entdecken.
Und uns nicht entdecken lassen.
Keine Ahnung warum, aber wir haben mittlerweile Angst vor den Worten – nur dazu sind Grenzen gut.
Ausgesprochene, geschriebene oder auch nur gedachte Worte verbergen nicht.
Niemals.
Sie offenbaren.
Und mithilfe von Worten stellen wir uns nicht nur den anderen, sondern vor allem uns selbst dar, als würden wir uns immer, wenn wir einen Gedanken formulieren, bei einem sich ewig wiederholenden ersten Rendezvous einstellen.
Ich hoffe, dieses Buch hilft Ihnen, mehr zu lieben, mehr zu lachen, mehr vom Leben zu verlangen, die Angst vor Entscheidungen zu überwinden, wenn das Leben eine Stellungnahme von Ihnen verlangt. Und vor allem nicht die richtigen, sondern die eigenen Worte zu finden.
Im Grunde bedeutet Lesen, im Lateinischen lego, nichts anderes als auswählen. Nur dazu sind Worte gut: um sich auszuwählen.
Ich möchte Ihnen zwei Geschichten erzählen.
Die kürzere stammt aus einem englischen Handbuch vom Jahr 1942, How to Abandon Ship. Wie man von Bord geht.
In diesem Handbuch werden Ratschläge gegeben, wie man den Schiffbruch eines Frachters oder Ozeandampfers überlebt; während des Zweiten Weltkriegs waren derartige Schiffbrüche genauso dramatisch wie häufig.
Ich habe mich vor vielen Jahren auf einer Reise durch Kent in dieses Handbuch verliebt, ich habe es bei einem Trödler gekauft, es aus Liebe verschenkt, es mit der Liebe verloren.
Ich habe nicht klein beigegeben: Ich habe es noch einmal bei einem anderen Trödler gekauft.
Die Motti, die Sie in diesem Buch am Anfang eines jeden Kapitels finden, stammen aus diesem wunderbaren schmalen Buch, das ungeachtet des Titels für mich nicht ein Handbuch mit Ratschlägen zur Flucht, sondern vielmehr eine Sammlung von Strategien ist, wie man die Schiffbrüche des Lebens übersteht und überlebt.
In den zahlreichen Kapiteln werden alle möglichen ausführlichen Ratschläge gegeben, etwa wie man ein Rettungsboot zu Wasser lässt oder auf hoher See hervorragenden Whisky braut, doch der erste Satz dieses alten Ratgebers lautet nicht zufällig: This manual is concerned solely with human lives. In diesem Ratgeber geht es nur um Menschenleben.
Die zweite Geschichte ist um einiges größer und bedeutender – ein Mythos, der sogar noch älter ist als der von Troja –, den alle gut kennen, wie Homer über die Fahrt des Schiffes Argo in Buch XII der Odyssee sagt.
Es handelt sich um die Fahrt der Argonauten, Helden, auf einem Schiff namens Argo, deren Schatten Neptun staunen ließ (wie Dante in der Göttlichen Komödie, Paradies, dreiunddreißigster Gesang, Vers 96 schrieb), dem ersten Schiff, das den Mythenforschern zufolge in See stach.
In den Metamorphosen (Sechstes Buch, Verse 719–721) widmete Ovid der Fahrt der Argonauten wunderschöne Verse:
Nun, da die kindliche Zeit vor dem Jünglingsalter gewichen, zog mit den Minyern* aus das Paar auf dem ersten der Schiffe, über entlegenste Flut nach dem Vlies mit der strahlenden Wolle.
Ihre Abenteuer auf der Suche nach dem Goldenen Vlies wurden bereits in einem Mythos erwähnt, der aus der Zeit der Mykener, der ältesten griechischen Kultur, stammt.
Im Lauf der Jahrhunderte haben sich alle Leser von Die Fahrt der Argonauten, dem Epos des Apollonios von Rhodos, gefragt, was genau dieser geheimnisvolle, goldene Widder sei, auf dem die Geschwister Helle und Phrixos von Griechenland nach Kolchis geflogen waren – Helle war bei diesem Flug ins Meer gestürzt, ihr zu Ehren wurde diese Meerenge von nun als Hellespont bezeichnet.
Historiker, Philologen und Anthropologen vermuteten ein Bild für Kolonisierung, für Natur- oder Himmelsphänomene, religiöse Kulte oder Handelsbeziehungen.
Lauter plausible Antworten.
Lauter menschliche Antworten.
In diesen zynischen Zeiten, in denen Angst und Hass so geschickt benutzt werden, dass sie unsere Fantasie und unsere Liebe zum Versiegen bringen, habe ich eine der fantastischsten Geschichten der griechischen Mythologie, die der Argonauten, ausgewählt.
Heute, wo offenbar schon alles gesagt und gesehen wurde, ist die Fantasie ein zutiefst revolutionärer, wenn nicht gar politischer Akt. Und der Königsweg zur Fantasie ist ausschließlich die Liebe.
Um den Regisseur Guillermo del Toro bei den Filmfestspielen Venedig 2017 zu zitieren: Unmöglich, dass sich die Beatles und Jesus in Bezug auf die Liebe geirrt haben.
Und schon gar nicht die alten Griechen, füge ich hinzu.
Seitdem ich in einem Schulbuch die Geschichte von Jason und Medea gelesen habe, wollte auch ich eines Tages herausfinden, was das Goldene Vlies bedeutet – was für ein merkwürdiges Wort, wer sagt heute noch Vlies anstelle von Fell?
Natürlich habe ich es nicht herausgefunden.
Ich bin mir jedoch sicher, dass das Goldene Vlies das unbekannte Ziel einer jeden Fahrt darstellt, angefangen bei der ersten, jener der Argonauten. Denn Jason findet im fernen Kolchis nicht nur ein magisches Fell, sondern etwas noch Geheimnisvolleres: die Liebe Medeas.
Nur deshalb habe ich mich aufs Neue aufgemacht.
Und dieses Buch geschrieben.
Wieder einmal nur aus Liebe.
*Minyer: Beiname der Argonauten, weil sie großteils diesem Volk angehörten. (A.d.Ü.)
Sei bereit
B.A. Baker, der dritte Offizier des Frachters Prusa, rät: Das Wichtigste für einen Seenotretter ist, den Geist zu trainieren. Konzentrieren Sie sich darauf, nicht aus der Fassung zu geraten, und halten Sie daran fest. Sagen Sie niemals: „Ich habe keine Angst“, denn Sie werden Angst haben. Wenn das Schiff von einem Torpedo getroffen wird, verspüren Sie Panik in der Magengrube und die Knie werden weich. Dagegen gibt es nur ein Mittel: handeln.
Kolchis war so weit entfernt, wie man zwischen dem Untergang und dem Aufgang der Sonne schauen kann, erzählt Apollonios von Rhodos gleich am Anfang seines Epos.
Jason