Jetzt war es Eugeos Holzschwert, das bedenklich knarrte. Das Gewicht, das auf seinem rechten Arm lastete, verdoppelte sich. Ein scharfer Schmerz schoss ihm durch Handgelenk und Schulter. Die zwei Cen, die er Humberts Schwert gerade zurückgedrängt hatte, waren im Nu zunichtegemacht, bis die beiden Schwerter wieder in ihrer Ausgangsposition verschränkt waren.
Was ist das für eine Kraft?!
Eugeo konnte der erneuten Attacke gerade noch standhalten und riss überrascht die Augen auf. Humbert kam immer nur in die Trainingshalle, um die Schönheit seiner Formen zu prüfen, ohne je einen Tropfen Schweiß zu vergießen. Er konnte unmöglich über solch eine Kraft verfügen. Wenn es also keine physische Kraft war … musste es wohl die Kraft sein, die er aus seinem Selbstwertgefühl schöpfte, ganz wie Kirito gesagt hatte. Diese Gesinnung, sich selbst zu achten und auf andere hinabzusehen, war unvereinbar mit Eugeos Wertvorstellungen. Doch offenbar verlieh genau diese Einstellung Humberts Schwert eine Macht, mit der er Eugeos tägliches Training übertrumpfen konnte.
Eugeo konnte es nicht verstehen. Er wollte einfach nicht glauben, dass die Göttin der Schöpfung Stacia die Existenz solch eines Prinzips zulassen würde.
Während er noch das Geschehen vor seinen Augen zu leugnen versuchte, sträubten sich plötzlich Humberts Haare, und er zischte: »Dachtest du wirklich, du könntest mich mit solch einer heimtückischen Attacke schlagen?«
»Heim…tückisch?«
»Allerdings! Vorzugeben, sich treffen zu lassen, um dann solch eine Technik ohne Form und Stil einzusetzen – wenn das nicht heimtückisch ist, was dann?«
»Nein! Das ist Bestandteil meines Schwertstils … des Aincrad-Stils!«, rief Eugeo unwillkürlich. Der Hoch-Norkia-Stil legte größten Wert auf die Kraft und Schönheit der Techniken, während der Aincrad-Stil eine praktische Schwertkunst war, die vor allem darauf ausgelegt war, einen Treffer zu landen. Daher erforderte der Stil Geheimtechniken, die besonders schnell anzuwenden waren, und verfügte außerdem über Kombo-Techniken, die es in keinem anderen Stil gab.
Das Prinzip des Aincrad-Stils zeigte sich in der Lebensweise von Kirito, des einzigen Überlieferers. Ohne sich zur Schau zu stellen, ohne zu prahlen, strebte er auf sein Ziel zu. Er gab nie auf, wenn er auf ein Hindernis traf, sondern versuchte sich noch ein zweites und ein drittes Mal daran. Wäre Kirito nicht an seiner Seite gewesen, hätte Eugeo wohl nie Zakkaria, geschweige denn Centoria erreicht.
Deswegen protestierte Eugeo auch so heftig, als Humbert den Aincrad-Stil so durch den Schmutz zog. Doch seine emotionale Erschütterung griff auch auf seinen Körper über, sodass sein Schwert ein wenig zurückgedrängt wurde. Nun war es das türkise Licht um Eugeos Holzschwert, das unbeständig flackerte. Breitbeinig und mit zurückgebeugtem Oberkörper stand er da und versuchte angestrengt, dagegenzuhalten.
Humbert grinste. Seine Stimme klang wie Fingernägel auf einer Tafel, als er höhnte: »In deiner erbärmlichen Lage zeigt sich die Armseligkeit deines Stils. Du hast wohl gedacht, du könntest mit etwas Glück im nächsten Wettkampf meinen oder Raios’ Rang einnehmen … Aber daraus wird nichts. Wenn ich jetzt deine rechte Schulter zerschmettere, wirst du so bald kein Schwert mehr schwingen.«
»Ugh …!« Eugeo hielt mit zusammengebissenen Zähnen dagegen, doch Humberts Schwert lastete immer schwerer auf ihm. Selbst wenn eine Schwerttechnik zurückgeschlagen wurde, konnte sie noch recht lange fortgesetzt werden, sofern man den Hieb auf der ursprünglichen Bahn weiterführte. Aber Eugeos Schwert wurde durch Humberts »Donnerblitz-Hieb« von oben niedergedrückt, sodass es bereits allmählich von seiner Bahn abwich. Wenn sein Schwert noch einen Cen, nein, nur fünf Mil weiter zurückgedrängt würde, würde der »Slant« abgebrochen werden und seine rechte Schulter wie angekündigt einen schmerzhaften Treffer erleiden.
Natürlich verfügte die Akademie über eine erstklassige Krankenstation, die mit einer großen Menge von Medikamenten ausgestattet war. Außerdem war dort immer ein Heiler anwesend, der in speziellen sakralen Künsten ausgebildet war. Allerdings war die Wirkung von Medizin und Heilkünsten begrenzt. Schwere Verletzungen wie etwa Knochenbrüche konnten ohne den Einsatz von gefährlichen sakralen Künsten, also zum Beispiel der direkten Übertragung von Lebenskraft, nicht sofort geheilt werden. Wenn er jetzt solch eine Verletzung erleiden sollte, würde er womöglich nicht an den Prüfungswettkämpfen im nächsten Monat teilnehmen können …
Wie idiotisch! Ein Schwertkämpfer hat doch keine Angst vor Verletzungen!
Eugeo schüttelte die Furcht ab, die sich in sein Herz schleichen wollte, und versuchte, sein Bewusstsein allein auf sein Schwert zu richten.
Er war auf Humberts Provokation eingegangen, obwohl er auch einfach hätte gehen können. Er selbst hatte ein Duell gefordert. Sich jetzt von den Worten seines Gegners verunsichern zu lassen und eine Niederlage zu fürchten, war absolut erbärmlich. Wenn er erst sein Schwert gezogen hatte, konnte er nur alle Technik und Kraft aufbieten. Der Rest würde kommen, wie er kommen musste. Das war der Geist des Aincrad-Stils.
Außerdem habe ich noch nicht alles gegeben.
Er konzentrierte sich nicht mehr auf den sadistisch grinsenden Humbert, sondern voll und ganz auf das Schwert in seiner rechten Hand. Er spürte die Härte und Schwere des Eichenholzes, wie es sich bog und knarrte. Selbst die minimalen Vibrationen des erlöschenden »Slant« konnte er spüren.
Du musst eins werden mit deinem Schwert, sagte sein bester Freund und Lehrer Kirito immer. Diesen Status hatte Eugeo zwar noch nicht erreicht, aber dank seiner täglichen Übungsschläge hatte er manchmal – wenn auch nur äußerst selten –
das Gefühl, die Stimme des Schwertes zu hören. Als würde ihm das Schwert zuraunen: Nicht so, mach die Bewegung so.
Auch jetzt schien es ihm, als würde er das Flüstern des Schwertes hören.
Wenn er den Angriff von oben nur von unten abzufangen versuchte, würde er zwangsläufig überwältigt werden. Er musste zu einer anderen Technik wechseln.
»Uoh!« Eugeo stieß einen Kampfschrei aus, was unge-wöhnlich für ihn war. Er drehte sein Handgelenk und parierte Humberts Schwert mit der rechten Seite seiner Klinge. Sofort wurde der »Slant« abgebrochen. Mit einem unheimlichen blau-schwarzen Leuchten näherte sich der »Donnerblitz-Hieb« seiner rechten Schulter.
Eugeo widersetzte sich dem Schwung nicht, sondern ließ den gegnerischen Angriff an seinem Holzschwert abgleiten und hielt es dann über seine Schulter. Auf der Stelle startete die Geheimtechnik »Vertical« des Aincrad-Stils.
Humberts Schwert erfasste den rechten Ärmel seines Trainingsanzugs und riss den indigoblauen Stoff mehrere Cen auf.
Doch da schlug Eugeos bläulich strahlendes Schwert die Waffe seines Gegners heftig zurück.
»Wuah!« Überrascht riss Humbert die Augen auf. Einen Gegenangriff hatte er offenbar nicht erwartet. Auch Raios und Humbert mussten von den Kombo-Angriffen im Aincrad-Stil gewusst haben. Aber vermutlich hatten sie nicht erwartet, dass man damit mehrere Geheimtechniken verbinden konnte. Eugeo selbst hatte zuvor keine Ahnung gehabt, dass so etwas überhaupt möglich war. Sein Körper hatte sich im Kampf einfach wie von selbst bewegt.
Humberts Schwert wich augenblicklich über fünfzehn Cen zurück. Das Licht des »Donnerblitz-Hiebs« erlosch abrupt. Er verlor die Balance, und seine Füße hoben vom Boden ab.
Doch das musste man wohl Glück nennen. Wäre er fest stehen geblieben, hätte Eugeos Schwert seine linke Schulter getroffen. Humberts Körper wurde von der Kraft des »Vertical« in die Luft gerissen und mehr als drei Mer nach hinten geschleudert.
Wäre er einfach zu Boden gefallen, wäre das Duell ein glatter Sieg für Eugeo gewesen. Aber er landete zwar laut polternd auf den Füßen, weigerte sich jedoch mit seinem typischen Starrsinn, zu fallen. Seinen Körper weit zurückgebeugt, behielt er gerade noch das Gleichgewicht.
Eugeo wusste, dass er einen Treffer erzielen konnte,