Kirito verspeiste mit unbeteiligter Miene seine Pastete und sagte: »Also, sollen wir vor dem Abendessen noch ein wenig trainieren?«
»Von mir aus gern. Aber morgen ist die Prüfung der höheren sakralen Künste. Außerdem gibt es neben dem schriftlichen Test auch noch den praktischen Teil, bei dem wir Eis-Elemente erzeugen müssen, was dir Schwierigkeiten macht.«
»Uff …« Kirito hatte gerade nach dem hölzernen Übungsschwert greifen wollen, doch Eugeos Hinweis ließ ihn innehalten. Für ein paar Sekunden schien er einen inneren Konflikt auszutragen, dann seufzte er und ließ seine Hand sinken. Leise murmelte er: »Mann, warum muss ich selbst hier noch für Prüfungen lernen …?«
In der Tat hatte Eugeo sich zu seinen Zeiten als Kerber in Rulid nicht vorstellen können, einmal in der Zentralstadt die sakralen Künste zu lernen. Natürlich machte auch ihm das Training mit dem Schwert mehr Spaß, als die komplizierten Mantras auswendig zu lernen. Doch wenn sie durch die theoretische Prüfung fielen, würden sie nicht die Qualifikation für das Kampfkunstturnier erhalten, ganz gleich, wie gut ihre Ergebnisse in den Schwertkünsten waren.
Das sollte auch seinem Partner bewusst sein, ohne dass Eugeo es ihm erklären musste. Kirito fuhr sich durchs Haar, das ebenso schwarz wie seine Uniform war, und sagte mit kraftloser Stimme: »Eugeo. Ich werde mich voll reinhängen und bis zur Nachtruhe büffeln. Es wäre toll, wenn du mir vielleicht mein Essen aus dem Speisesaal bringen könntest.«
»In Ordnung. Weißt du, es wäre einfacher, wenn du den Stoff regelmäßig Stück für Stück lernen würdest.«
»Du hast vollkommen recht. Aber es gibt nun mal auch Leute, die das nicht können …«, erwiderte Kirito seltsam tiefsinnig. Mit schweren Schritten schleppte er sich durch das Wohnzimmer und verschwand durch die Tür an der nördlichen Seite in sein Zimmer.
Anders als das Novizen-Wohnheim, in dem sie bis vor anderthalb Monaten gewohnt hatten, war das Wohnheim der Elite-Kadetten ein kreisförmiges Gebäude. Es hatte drei Stockwerke und eine Öffnung in der Mitte. Korridore verliefen rundherum an der Innenseite. Die Privatzimmer der zwölf Elite-Kadetten reihten sich außen an der Südseite aneinander.
Im Erdgeschoss befanden sich der Speisesaal und das große Bad. Im ersten und zweiten Stockwerk befanden sich jeweils sechs Zimmer für die Studenten. Je zwei Zimmer teilten sich einen Aufenthaltsraum. Eugeos und Kiritos Zimmer lagen im zweiten Stockwerk.
Die Zimmer wurden nach der Rangfolge in der Prüfung am Ende des ersten Jahres vergeben. Der Student mit dem besten Ergebnis erhielt das Zimmer 301 ganz im Osten des zweiten Stockwerks, der Zweitbeste erhielt Zimmer 302 und so weiter, sodass der Student auf dem zwölften Rang Zimmer 206 im ersten Stockwerk bekam. Eugeo hatte Zimmer 305 und Kirito die 306. Also hatten sie unter den 120 Novizen das fünft- beziehungsweise sechsbeste Ergebnis erzielt.
Halb geplant, halb aus Glück war es ihnen gelungen, zwei Zimmer nebeneinander zu bekommen. Natürlich hatten sie eigentlich die ersten beiden Ränge ergattern wollen, da es der einzig sichere Weg war, einen gemeinsamen Wohnraum zu bekommen. Doch in den Prüfungskämpfen gegen die Lehrer war Kirito Vierter geworden und Eugeo Fünfter. Sie waren schon bange gewesen, weil sie dadurch aufgeteilt worden wären. Kirito hatte jedoch beim Vorführen der Formen und der Prüfung der sakralen Künste weitere Punkte verloren, sodass er schlussendlich auf dem sechsten Rang gelandet war.
Somit hatten sie am Ende ihr Ziel erreicht, zusammenliegende Zimmer zu erlangen, aber eine Sorge ganz anderer Art blieb bestehen.
In einem Jahr, genauer gesagt, zehn Monaten würden sie die Akademie tatsächlich mit den zwei besten Ergebnissen abschließen müssen, um sich für das kaiserliche Kampfkunstturnier zu qualifizieren. Bei der Aufnahmeprüfung waren Kirito auf dem siebten und Eugeo auf dem achten Rang gewesen, also hatten sie gewisse Fortschritte gemacht. Aber bei dem Gedanken, dass über ihnen noch vier andere waren, fiel es ihm schwer, optimistisch zu bleiben.
Kirito war da gelassener. Er schien der Ansicht zu sein, dass sie schon gewonnen hatten, als sie Elite-Kadetten geworden waren. Sein Selbstvertrauen war nicht ganz unbegründet, denn die Rangfolge der Kadetten wurde statt der Gesamtpunktzahl in den Prüfungen anhand der vierteljährlichen Prüfungskämpfe festgelegt. In diesen Kämpfen traten sie nicht gegen Lehrpersonen, sondern andere Studenten an. Dabei wurden die üblichen Benotungsstandards außer Acht gelassen, und es reichte, den Gegner zu besiegen.
Sein Partner, der in vielerlei Hinsicht die Normen sprengte, hatte vor zweieinhalb Monaten, als sie noch Novizen gewesen waren, in einem Duell gegen den damaligen Elite-Kadetten ersten Ranges gesiegt. Tatsächlich war es per Schiedsspruch ein Unentschieden gewesen, dennoch war es eindeutig Kiritos Sieg gewesen. Zumal sein Gegner ein extrem starker Schwertkämpfer und ältester Sohn einer Adelsfamilie zweiten Ranges war, die seit Generationen die Ausbilder für den kaiserlichen Ritterorden stellte.
Eugeo hatte zwei Jahre lang von Kirito dessen ureigenen Aincrad-Stil erlernt und inzwischen auch Vertrauen in seine Fähigkeiten mit dem Schwert. Doch er war deswegen noch lange nicht so positiv gestimmt wie sein Partner. Selbst am Vortag der schriftlichen Prüfungen brachte er es nicht über sich, sein tägliches Training auszulassen.
Für gewöhnlich trainierten sie zusammen. Doch da sein Partner sich nun in sein Zimmer zurückgezogen hatte, um in letzter Minute noch zu pauken, nahm Eugeo sein Holzschwert und verließ notgedrungen allein das Zimmer.
Jenseits des kreisrunden Korridors auf der Gebäudeinnenseite lag die Öffnung, die vom Erdgeschoss bis hinauf zur zweiten Etage reichte. Durch das runde Oberlicht darüber war der rote Abendhimmel zu sehen. Solch prächtige Gebäude gab es nicht in Zakkaria, geschweige denn in Rulid. Der blank gebohnerte Parkettboden bestand aus dem hochwertigsten Edelholz, und an den Wänden des gewundenen Korridors hingen Gemälde mit Szenen aus der Geschichte des Kaiserreichs.
Meine Brüder würden mir niemals glauben, wenn ich ihnen erzähle, dass ich in solch einem prächtigen Gebäude wohne und sogar einen eigenen Pagen habe, dachte Eugeo geistesabwesend, während er durch den langen Korridor ging.
Selbst wenn sie Elite-Kadetten waren, war das schon eine ausnehmend gute Behandlung für einfache Studenten. Was für ein luxuriöses Leben mussten da erst die erfahrenen Schwertkämpfer auf den oberen Rängen des großen Turniers der vier Kaiserreiche führen – ganz zu schweigen von den Integrationsrittern der Axiom-Kirche, die mehr Macht hatte als die vier Kaiserfamilien.
»Schluss damit!« Eugeo klopfte sich selbst mit dem Holzschwert auf den Kopf.
Vielleicht lag es daran, dass er sich nach einem Jahr an der Akademie schon ein wenig an das Leben hier gewöhnt hatte, aber manchmal verlor er fast seine Gefühle beim Verlassen seines Dorfes aus den Augen. Er war nicht zu dieser Reise aufgebrochen, um sich als Schwertkämpfer einen Namen zu machen oder Geld und Ruhm zu erlangen.
»Alice …«, flüsterte er, um sich selbst an diesen wichtigen Namen zu erinnern.
Hier zu leben, in den Prüfungskämpfen zu siegen, Integrationsritter zu werden, all das waren nicht seine Ziele, sondern Mittel zum Zweck. Es diente alles dazu, seine blonde Kindheitsfreundin zu befreien, die irgendwo in der Central Cathedral der Axiom-Kirche eingesperrt sein musste.
Über eine Treppe im Norden des Gebäudes stieg Eugeo zum Erdgeschoss hinunter und ging zur angrenzenden Trainingshalle des Wohnheims. Auch das war eines der Sonderrechte der Elite-Kadetten. Zu ihrer Zeit als Novizen hatten sie ihr Holzschwert noch in der überfüllten Haupttrainingshalle oder im Freien schwingen müssen. Jetzt konnten sie nach Herzenslust in einer hellen, geräumigen Halle trainieren, ohne sich über ein Zeitlimit sorgen zu müssen.
Als er die Tür am Ende des kurzen Verbindungsflurs öffnete, roch er schon den frischen Holzgeruch des Parkettbodens, der jedes Jahr im Frühling erneuert wurde. Er blieb stehen und sog den Duft tief ein, dann hielt er plötzlich inne. In der Luft hing der Hauch eines klebrigen Parfüms.
Sobald er durch den kleinen Umkleideraum in die Halle trat, bewahrheiteten sich seine Befürchtungen.
Zwei Studenten in der Mitte der Halle drehten sich zu Eugeo um und zogen