Psychologische Vorbehalte gegen frühes historisches Lernen aufgrund der Annahme von entwicklungsstadientypischen „Einschränkungen des Denkens“ lassen sich demnach unter Berücksichtigung der vielen kritischen Befunde durch Forschungsergebnisse nicht mehr aufrechterhalten. Piagets Stufung bzw. die Vorstellung von alterstypischen Denkstrukturen konnte insofern widerlegt werden, als das kindliche Verständnis von Begriffen und Zusammenhängen massiv abhängt vom bereichsspezifischen Vorwissen der Kinder. Es zeigte sich, dass Kinder in frühem Alter zu außergewöhnlichen Denkleistungen imstande sind, wenn sie bereits viele Kenntnisse zum Thema hatten.119 Nicht ein vermeintlicher (lebensalterbedingter) Entwicklungsstand ist somit entscheidend für erfolgreiches Lernen, sondern individuelles Vorwissen und die Verfügbarkeit von Begriffen und ihnen innewohnenden Konzepten, um weitere Begriffe bzw. Konzepte zu verstehen und somit neue Kenntnisse in den je eigenen Wissensstrukturen zu verankern. Bei Kindern bereits vorhandene „naive“ Theorien können dadurch im Sinne des „conceptual change“ aufgegriffen und weiterentwickelt werden.120
Was bedeutet dies jedoch für das historische Denken, also für analytische und reflexive domänenspezifische Denkprozesse, für die das Verständnis von Metakonzepten wesentliche Voraussetzung ist?121 Die neuere entwicklungspsychologische Forschung verweist darauf, „dass die grundlegenden begrifflichen Voraussetzungen für ein konstruktivistisches Verständnis von Wissenschaft schon im Grundschulalter vorhanden sind“.122 Dies ist insofern relevant, als die Ergebnisse „auf die Möglichkeiten zur Vermittlung epistemologischer Grundbegriffe im Grundschulalter hinweisen, die für das Verständnis des Zusammenhangs von Interpretation und Evidenz zentral sind“.123
Jüngere Ergebnisse aus der geschichtsdidaktischen Forschung bestätigen das Interesse von Kindern in der Primarstufe an geschichtlichen Themen124 und die Möglichkeit der Förderung historischen Denkens als schrittweise Anbahnung historischer Kompetenzen ab dem ersten Schuljahr (oder sogar ab dem Kindergarten).125 Analyseergebnisse von Aussagen bzw. Vorstellungen von Primarstufenschüler*innen zeigen, „dass frühes historisches Lernen im Sachunterricht schon im Anfangsunterricht beginnen könnte und daher Kompetenzen historischen Denkens von Anfang an zu fördern sind. Eine Auseinandersetzung in den ersten beiden Klassen lediglich mit dem Temporalbewusstsein – wie es in vielen Lehrplänen und somit auch aktuellen Lehrmitteln immer noch vorgesehen ist – bedeutet daher eine Unterforderung.“126 Darüber hinaus konnten unter Lernenden im Primarstufenalter Kompetenzausprägungen in allen Kompetenzbereichen in großer Bandbreite nachgewiesen127 und zudem Konzepterweiterungen empirisch belegt werden.128 Durch ein Bündel an Interventionsmaßnahmen zur Initiierung von Konzepterweiterungen hinsichtlich epistemologischer Metakonzepte wie Partikularität, Selektivität und Perspektivität von Quellen gelang es, Schülervorstellungen zum Konstruktcharakter von Geschichte zu elaborieren.129
Zusammengefasst kann festgestellt werden, dass Schüler*innen der Primarstufe historisch denken können130 und so dass der Sachunterricht in seiner historischen Perspektive ein „sachgerechtes, [lern-]altersadäquates, lebensrelevantes historisches Lernen ermöglichen muss“131. Die Ziele müssen dabei die Entwicklung eines reflektierten und (selbstreflexiven) Geschichtsbewusstseins sein sowie die Weiterentwicklung von bereits vorhandenen domänenbezogenen Konzepten und die Anbahnung von fachspezifischen Kompetenzen132 als Beitrag einer grundlegenden Orientierung in der Welt.133 Zum Spannungsverhältnis von kindlicher Lebenswelt und sachlichfachlichen Anforderungen kann angemerkt werden, dass „ein wohlverstandener Fachbezug im Sachunterricht, der es ausdrücklich zulässt, dass die kindlichen Erfahrungen berücksichtigt werden und dies kultiviert, auch unter anthropologischer Rücksicht gerechtfertigt werden“ kann.134
Trotz des mahnenden Hinweises, dass die gegenseitige Bedingung von „Reifung“ und „Sozialisation“ nicht außer Acht gelassen werden dürfe und daher auch Erwartungen in frühes historisches Lernen realistisch eingeschätzt werden müssen,135 gilt in der Geschichtsdidaktik – wie hier dargelegt – die Verfrühungsthese seit vielen Jahren als obsolet, jedoch auch das Forschungsdesiderat in diesem Bereich als evident. „Damit steht heute nicht mehr die grundsätzliche Frage im Vordergrund, ob Kinder […] überhaupt schon die psychischen und kognitiven Voraussetzungen besitzen, um historisch zu lernen und verstehen zu können. Es geht nur noch um die Frage, wie dies möglichst kind-, fach- und methodengerecht geschehen kann.“136
III.3 Historisches Lernen mit Textquellen
Es soll an dieser Stelle in aller Kürze auf die historische Entwicklung der schulischen Arbeit mit Quellen im deutschsprachigen Raum137 hingewiesen werden.
Für den Umgang mit Textquellen im schulischen Unterricht stellen die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts einen markanten Wendepunkt dar,138