Ohne dabei auf sämtliche Kompetenzmodelle im deutschsprachigen Raum einzugehen,95 wird im Folgenden spezifisch das im deutschsprachigen und auch internationalen Diskurs breit rezipierte FUER-Modell beschrieben, da es für den österreichischen Raum besondere Relevanz hat und daher für die Ausgestaltung des Untersuchungsinstruments der vorliegenden Schulbuchanalyse grundlegend war. Die bei Rüsen grundgelegten Basis-Operationen historischen Denkens der Re- und De-Konstruktion werden im FUER-Modell weiter differenziert, indem diese auf die Bereiche „Vergangenheit“, „Geschichte“ und „Gegenwart/Zukunft“ fokussiert werden.96 Weiter ausdifferenziert wird auch die Rüsen’sche disziplinäre Matrix97 in Form eines Prozessmodells historischen Denkens mit dem Titel „Geschichtsbewusstsein dynamisch“98, das die synthetische und analytische Dimension historischen Denkens und die Reziprozität derselben stark in den Vordergrund rückt und dabei wesentliche Elemente des „Jeismann-Rüsen-Paradigmas“99 integriert (vgl. Abb. 2).
Abb. 2: „Geschichtsbewusstsein dynamisch“ (Hasberg/Körber 2003, S. 187)
Ausgehend vom Modell „Geschichtsbewusstsein dynamisch“ werden zentrale Kompetenzbereiche und Kernkompetenzen100 unterschieden und definiert (vgl. Abb. 3), die aus der Theorie zum historischen Denken abgeleitet werden können. Diese sind die drei prozeduralen Kompetenzbereiche der historischen Frage-, Methoden- und Orientierungskompetenzen. Die historischen Fragekompetenzen stehen als erster Kompetenzbereich am Beginn des historischen Denkprozesses101, da durch sie Orientierungsbedürfnisse, ausgelöst von Verunsicherungen, Interessen oder Irritationen, gebündelt werden und die Beschäftigung mit der Vergangenheit oder mit Geschichte maßgeblich gelenkt wird. Kernkompetenzen der historischen Fragekompetenzen, also konkrete Operationalisierungen des Kompetenzbereichs, sind zum einen selbst historische Fragen zu stellen, zum anderen historische Fragen anderer zu erschließen. Die historischen Methodenkompetenzen fokussieren auf die fachspezifischen Methoden zur Beantwortung von historischen Fragen. Sie umfassen sowohl den durch die Fragestellung geleiteten methodisch geregelten synthetischen Umgang mit Quellen und Darstellungen mit dem Ziel einer eigenen triftigen Narration als auch den methodisch geregelten analytischen Umgang mit vorliegenden historischen Narrationen. Die Kernkompetenzen der historischen Methodenkompetenzen zielen somit auf reflektierte Re- und De-Konstruktionsprozesse. Der Bereich der historischen Orientierungskompetenzen stellt diejenigen Kompetenzen in den Mittelpunkt, die durch Re- und De-Konstruktionsprozesse gewonnenen Erkenntnisse und Einsichten auf die eigene Gegenwart und Zukunft zu beziehen, um sich somit historisch zu orientieren. Davon ableitbar sind die Kernkompetenzen der Re-Organisation des eigenen Geschichtsbewusstseins, der Reflexion und Erweiterung des Welt- und Fremdverstehens, der Reflexion und Erweiterung des Selbstverstehens und der Reflexion und Erweiterung der Handlungsdispositionen.102
Abb. 3: FUER-Begrifflichkeiten zu fachspezifischen Kompetenzen am Beispiel von Historischen Methodenkompetenzen
Der vierte Kompetenzbereich der historischen Sachkompetenzen wird als kategorisierender Bereich beschrieben, der dem Kompetenzbegriff entsprechend103 über Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften des Verfügens und der Anwendung von domänenspezifischen Begriffen und den ihnen innewohnenden Konzepten operationalisiert wird, wie etwa Basiskonzepte, inhaltsbezogene Konzepte, epistemologische Prinzipien oder prozedurales Wissen, die das historische Denken ermöglichen, unterstützen und kommunizierbar machen.104 Die Kernkompetenzen dabei sind Begriffs- und Strukturierungskompetenz.105
Die Zusammenhänge zwischen den Kompetenzbereichen – innerhalb der prozeduralen Kompetenzbereiche und zwischen den prozeduralen Kompetenzbereichen und der historischen Sachkompetenz –, die sich nur idealtypisch trennen lassen, werden als Überlappungsbereiche bezeichnet.106
III.2 Historisches Lernen in der Primarstufe
Lange Zeit hielten sich aufgrund von später als solche bezeichnete „tradierten Scheinwahrheiten“107 generelle Vorbehalte gegen historisches Lernen in der Primarstufe. Kinder im Primarstufenalter wären mit historischem Lernen psychisch und kognitiv überfordert und somit schlichtweg dazu nicht in der Lage, da sie „noch kein Verständnis für historische Zusammenhänge und für Geschichte als solche (was immer das sein mag) aufbringen“ könnten und „‚der Geschichte‘ überfordert und unverständig gegenüber“ ständen.108 Diese „Verfrühungsthese“ historischen Lernens109 hielt sich sehr lange „infolge älterer, stufenbezogener Entwicklungstheorien und der damit einhergehenden, als gering erachteten Chancen und Möglichkeiten für elaboriertes Lernen im Elementar- und Primarbereich“.110 Entsprechend den entwicklungspsychologischen