Sie hatte das Gefühl, als zöge er sie unbarmherzig näher zu sich heran, und von plötzlicher Panik ergriffen, riß sie ihre Hand los und wandte das Gesicht ab.
»Bitte gehen Sie!« flehte sie.
Armand sank auf die Knie, faßte erneut ihre Hand und drückte seine Lippen darauf.
»Ich werde morgen Abend wiederkommen und warten«, sagte er leise. »Wenn Sie nicht hier sind, werde ich wissen, daß dies alles nur ein Traum war.«
Er stand auf und eilte den gleichen Weg hinab, auf dem er zum Tempel gekommen war, ohne sich noch einmal umzusehen.
Erst als er das Ende des Sees erreicht und den Pfad fand, der durch den Wald zur Mauer führte, wandte er sich um. Doch sie war fort!
Der Tempel stand im Schein des Mondes leer und verlassen da.
Als Armand den Gasthof betrat, fand er den Wirt vor, der, mühsam ein Gähnen unterdrückend, auf ihn wartete.
»Wer lebt auf dem Grundstück auf der anderen Seite des Dorfes?« erkundigte sich Armand.
»Es ist der Familie de Valmont zurückgegeben worden«, antwortete der Wirt und fügte hinzu: »Oder denen, die noch davon übrig sind!«
»Haben sie es in den Jahren des Terrors verloren?«
Der Wirt nickte.
»Der Graf starb unter der Guillotine. Ich behaupte ja nicht, daß ihm nichts vorzuwerfen war, aber er war trotzdem kein schlechter Herr. Doch er mußte sterben, wie die meisten der verdammten Adligen in dieser Gegend. Aber der Kaiser, der ja ein gerechter Mann ist, hat der Tochter des Grafen, der Comtesse Rêve, den Grundbesitz zurückgegeben. Sie lebt dort mit ihrer Tante, der alten Herzogin.«
»Und der Sohn der Familie?« fragte Armand.
Der Wirt sah ihn überrascht an.
»Sohn? Es gibt keinen Sohn, soweit ich weiß! Der Graf und die Gräfin hatten nur ein einziges Kind, und sie lebt jetzt dort im Château, wie Sie selbst sehen können, falls Sie morgen auf Ihrem Weg nach Paris dort einen kurzen Besuch abstatten wollen.«
»Ich werde es mir überlegen«, entgegnete Armand in gleichgültigem Ton. »Übrigens breche ich morgen noch nicht nach Paris auf. Mein Pferd hat Ruhe nötig, und ich auch. Ich werde noch eine Nacht hierbleiben.«
Der Wirt wurde augenblicklich unterwürfig.
»Aber gewiß doch, Monsieur. Es ist mir eine Ehre, Monsieur. Wenn Monsieur mir morgen früh seine Lieblingsspeisen mitteilen möchten, wird meine Frau ein Essen zubereiten, das sogar dem Kaiser munden würde.«
Lange bevor der Wirt zu reden aufhörte, war Armand bereits die halbe Treppe zu seinem Schlafzimmer hinaufgeeilt.
Es war ein spärlich möblierter Raum; die Kerze warf dunkle Schatten auf die von dicken Balken getragene Decke und erleuchtete die unebenen Bretter und Risse im Boden. Doch Armands Gedanken drehten sich um andere Dinge, und als er sich schließlich aufs Bett legte, schlief er fast augenblicklich ein und wachte erst am nächsten Morgen wieder auf.
Die Sonne schien durch das vorhanglose Fenster und weckte ihn auf; einen Moment lag er still, mit geschlossenen Augen, und dachte an die Ereignisse des vergangenen Abends.
Im Rückblick wirkten sie grotesk, nicht wegen der Ereignisse selbst - er war in einen Wald eingedrungen und hatte eine junge Frau beim Baden in einem silbrig glänzenden See beobachtet -, sondern wegen der Gefühle, die in ihm erwacht waren, Gefühle, die zu empfinden er niemals erwartet hatte.
Er versuchte, sich einzureden, daß alles nur eine Sinnestäuschung war, und doch wußte er genau, daß dies nicht stimmte.
Gleichsam verärgert darüber, so viele Stunden mit Schlafen verbracht zu haben, sprang er aus dem Bett, mit einer Behändigkeit und Entschlossenheit, die so gar nicht seinen für gewöhnlich trägen Bewegungen entsprachen.
Nach dem Frühstück ging er hinaus auf die gepflasterte Dorfstraße, wo die Bauern ihre Waren verkauften.
Ohne sich um die auf ihn gerichteten neugierigen Blicke zu kümmern, schlenderte Armand durch das Dorf, und zwar in die Richtung, aus der er am Vorabend gekommen war, bis er den Weg erreichte, der von der hohen Mauer begrenzt war.
Diesmal wandte er sich jedoch statt nach links nach rechts und folgte der Mauer, bis er zu einem riesigen Eisentor kam, das von Steinpfeilern eingesäumt und von Wappenbildern gekrönt war. Hinter dem Tor wurde eine ungepflegte, von Unkraut überwucherte Auffahrt sichtbar, die jedoch von schönen Pappeln eingefaßt war.
Am Ende dieser Allee stand das Schloß. In der Morgensonne wirkte es sehr eindrucksvoll; seine Türme und Türmchen glitzerten vor dem blauen Himmel, die Fenster glänzten wie der See, der es von drei Seiten umgab.
Armand stand eine Weile da und starrte das Schloß an; dann kehrte er um und ging langsam zum Gasthof zurück. Der Wirt war nirgends zu entdecken, doch Armand fand auch allein den Weg zum hinteren Teil des Hauses.
In einer großen Küche mit niedriger Decke traf er die Frau des Wirtes an, die zwei junge Enten rupfte.
»Bonjour, Monsieur«, sagte sie und sah ihn mit leuchtenden Augen bewundernd an. Armand senkte den Kopf und trat durch die niedrige Tür ein.
»Bonjour, Madame«, erwiderte er. »Sagen Sie mir, wie heißt die Tante, die bei der Comtesse Rêve de Valmont lebt?«
»Madame la Duchesse de Malessene. Sie ist die Großtante der Comtesse und schon sehr betagt, Monsieur; aber sie ist noch im vollen Besitz ihrer Kräfte. Meine Nichte, die im Château arbeitet, hat mir erzählt, daß den Adleraugen der alten Dame nichts entgeht. Sie ist noch ganz vom alten Schlag, und das kann man heutzutage nicht von sehr vielen Leuten behaupten.«
»Wieso, Bürgerin, loben Sie die Aristokraten?« spöttelte Armand.
Ihm fiel auf, daß sie einen Blick über die Schulter warf, als habe sie Angst, belauscht zu werden. Dann lachte sie.
»Ich will damit ja nicht sagen, daß ich den alten Tagen nachtrauere, Monsieur. Wir wären auch wirklich undankbar, wenn wir das täten, wo unser geliebter Kaiser Frankreich doch zur größten und gefürchtetsten Nation der Erde gemacht hat. Doch es gibt einige, die die neuen Bedingungen und die neue Freiheit ausnützen. Es ist ja schön und gut, ohne Religion und all die alten Spielregeln auszukommen, mit denen wir aufwuchsen - aber sind die jungen Leute deshalb besser? Das frage ich mich manchmal.«
Sie war mit dem Rupfen der einen Ente fertig, band sie zusammen und legte sie auf den Tisch. Dann nahm sie die andere zur Hand.
»Ich hatte nie Streit mit denen, die im Château leben«, fuhr sie fort. »Der Graf war zu meiner Familie immer freundlich, und die kleine Comtesse ist ein wahrer Engel. Gott segne sie! Aber hier im Dorf werden Sie einige finden, Monsieur, die sogar über den Kaiser murren, weil er das Château den de Valmonts zurückgegeben hat.«
»Gewiß wagen sie aber auch nicht mehr als zu murren, oder?« meinte Armand.
»Ja, gewiß. Wer, so frage ich mich, sind die überhaupt, daß sie die Entscheidungen des Kaisers in Frage stellen? Das ist vielleicht eine Frechheit und Undankbarkeit! Aber, wie ich schon oft zu meinem Mann gesagt habe, man kann manchen Leuten hohe Stellungen und feine Kleidung geben, sie werden trotzdem immer die Schweine bleiben, die sie schon bei ihrer Geburt waren!«
»Ja, das stimmt«, antwortete Armand ernst. »Und im Château lebt niemand außer der Comtesse und ihrer Großtante?«
»Im Moment niemand, glaube ich, außer Antoinette.«
»Und wer ist das?« erkundigte sich Armand.
»Ach, das ist nur eine Dienerin, aber eine Persönlichkeit - eine echte Persönlichkeit! Sie war die Amme der kleinen Comtesse, und als der Terror einsetzte, schmuggelte sie sie aus dem Château, gerade in dem Moment, als die Bürger die Tore erstürmten. Viele Jahre lang wußte niemand, was der armen Kleinen zugestoßen war. Antoinette versteckte sie; es wird behauptet,