Armand erreichte den Dorfgasthof, der, wie nicht anders erwartet, klein und spärlich möbliert war. Doch alles wirkte sauber, und der Wirt beeilte sich, das Abendessen und eine Flasche Wein für Armand zu holen. Beides war so appetitlich, daß er sich nicht lange bitten ließ. Als sein Hunger gestillt war, ging er zum Stall, um nachzusehen, ob sein Pferd ordentlich gestriegelt und mit Streu versorgt war.
Als er wußte, daß alles seine Ordnung hatte, schlenderte er gemächlich die Dorfstraße entlang. Nach dem langen Tagesritt tat es gut, sich die Beine zu vertreten, und bald bog Armand von dem gepflasterten Weg ab in einen schmalen Feldweg, der, wie er feststellte, von einer hohen Mauer begrenzt war.
Die Mauer war von gewaltigen Ausmaßen, mindestens zehn Meter hoch, und von Eisenspitzen als unübersehbares Abschreckungsmittel für etwaige Eindringlinge gekrönt. Doch sie stellte gar kein so unüberwindbares Hindernis dar, wie es im ersten Moment schien, denn ein Stück weiter unten war sie teilweise zusammengebrochen, so daß ein Loch entstanden war, durch das man leicht mit Pferd und Wagen hätte eindringen können.
Neugierig spähte Armand zwischen den Bäumen und Büschen hinter der Mauer hindurch und entdeckte in der Ferne etwas silbrig Glitzerndes.
Da er ohnehin nichts Besseres zu tun hatte, kletterte er über die am Boden liegenden Steine und wagte sich über einen weichen Teppich aus Kiefernnadeln und Moos, zwischen Bäumen hindurch, weiter ins Innere des Gartens hinein.
Hinter der zusammengestürzten Mauer hatte er ein verfallenes Château erwartet, wie er es nur zu oft auf seiner Reise von der Küste hierher gesehen hatte; aber obgleich er ein gutes Stück Weg zurücklegte, entdeckte er nirgends ein Gebäude; die Bäume lichteten sich, doch dahinter lag ein kleiner See, der von einem künstlichen Wasserfall gespeist und von hohen Bäumen überschattet wurde.
Dies also war der silberne Schimmer, den er aus der Ferne gesehen hatte. Einen Augenblick lang stand er wie angewurzelt da, fasziniert von dem wunderbaren Anblick.
Dort, wo Armand aus dem Wald hervortrat, plätscherte ein Wasserfall herab; oberhalb davon lag vermutlich ein See und darüber vielleicht noch einer.
Links von dem Wasserfall stand ein kleiner griechischer Tempel aus Marmor, der früher einmal elfenbeinweiß gewesen sein mußte, mit der Zeit jedoch verwittert und mit einer bunt schillernden Patina überzogen war, und an dessen Säulen Geißblatt und Rosen üppig emporrankten.
Der Mondschein flutete auf den kleinen, von dunklen Bäumen eingesäumten Tempel, von dem aus Stufen aus Stein hinunter zum See führten. Alles lag still da, nur das leise Plätschern des Wasserfalles und die zauberhaften, sanften nächtlichen Geräusche des Waldes waren zu hören.
Armand stand unbeweglich da. Es war nicht nur die Schönheit dieses Ortes, die ihn bannte. Fast schien ein Zauber auf ihm zu liegen, er spürte, daß dieser Augenblick unsagbar wichtig war, er ahnte, daß sich hier etwas Entscheidendes ereignen würde.
Während er so dastand, erfüllt von einer seltsamen, unerklärlichen Vorahnung, schritt eine Frau, fast ein Mädchen noch, die Stufen vom Tempel herab. Sie bewegte sich sehr langsam und war in ein weißes, durchsichtiges Tuch gehüllt, das sie vorn zusammenraffte. Sie erreichte die letzte Stufe, die vom Tempel ins Wasser führte, blieb dort stehen und sah sich um, als atme sie tief die Schönheit der Natur ein. Dann ließ sie das Tuch, das sie trug, langsam sinken - so langsam, daß es fast aussah wie ein Nebel, der der Morgensonne weicht; es glitt auf ihre Taille hinab und dann zu ihren Füßen.
Sie warf den Kopf in den Nacken und wandte ihr Gesicht dem Mond entgegen, der über den Bäumen schien. Völlig nackt, von einer unbeschreiblichen Schönheit, stand sie da, weiß und vollkommen, und doch leuchtend wie eine Perle vor dem Hintergrund des grauen Gesteins. Sie erinnerte an eine antike griechische Statue.
Doch ihre wogenden, runden Brüste, die langen, schlanken Beine und die stolze, kräftige Linie ihres Rückens hatten nichts Antikes oder Lebloses an sich.
Ihre Taille ließ sich mit zwei Händen umfassen, und ihr langer, anmutiger Hals verlieh ihrem hübschen Kopf etwas Vornehmes, das selbst aus dieser Entfernung erkennbar war.
Eine Sekunde stand sie noch so da, dann tauchte sie in das Wasser ein. Sie schwamm über den See, drehte, schwamm zurück und erklomm erneut die Stufen. Glitzernd stand sie im Mondschein, Wassertropfen fielen schillernd auf den Boden zu ihren Füßen.
Ihr Haar hob sich dunkel von ihren Schultern ab. Sie nahm es und schlang es mit einer unendlich langsamen, sanften Bewegung zu einer Rolle, um es trocken zu wringen.
Plötzlich stieg sie genauso unvermutet, wie sie erschienen war, die Stufen hinauf und verschwand im Schatten des Tempels.
Armand holte tief Luft. Er hatte kaum gewagt zu atmen, während er sie beobachtete, gebannt von einer Schönheit, wie er sie sich niemals hätte träumen lassen - dem Mondschein, dem silbernen Wasser, den dunklen Bäumen, dieser lieblichen, vollkommenen Gestalt.
Einen Moment glaubte er schon, alles nur geträumt zu haben, dann jedoch bemerkte er eine kleine dunkle Wasserpfütze auf den Steinstufen - Wasser, das ihren Körper berührt hatte.
Langsam, wie im Traum, fast gegen seinen Willen, schritt er auf den Tempel zu.
2
Der Tempel war größer, als Armand ihn aus der Entfernung geschätzt hatte. Er war teilweise zerstört und wirkte im Mondschein fremd und geheimnisvoll, als wäre er der Schauplatz eines Traumes.
Der Pfad führte zur Mitte der Stufen, von denen einige nach oben zu der Öffnung zwischen den Marmorsäulen führten, andere nach unten in das kühle, silbrige und jetzt ruhig daliegende Wasser. Armand blieb stehen und wartete.
In der Ferne, irgendwo im Schatten der Bäume, sang eine Nachtigall. Es roch herrlich nach Rosen und anderen Blumen, deren exotische Düfte er nicht kannte. Alles war sehr still; es schien, als warteten selbst die Bäume und Blumen.
Plötzlich erschien sie, und obgleich er sie erwartet hatte, fuhr er bei ihrem Anblick beinahe zusammen.
Sie blieb zwischen zwei Säulen kurz stehen und trat gleich darauf lautlos aus der Dunkelheit des Eingangs hinaus ins Mondlicht. Dabei summte sie eine Melodie vor sich hin, und jetzt, da die Stille unterbrochen war, klang es, als jubelte ein ganzer Chor einen Triumphgesang.
Sie war wirklich wunderschön! Armand, der in seinem Leben schon viele schöne Frauen gekannt hatte, verschlug es den Atem angesichts einer so reinen, vollkommenen Schönheit.
Sie war nicht groß, doch ihre Grazie und die Anmut des Kopfes und des langen Halses verliehen ihr sowohl Größe als auch Würde.
Ihr Gesicht war herzförmig, ihr dunkles Haar fiel von einem Punkt in der Mitte ihrer weißen Stirn lose zu beiden Seiten herab. Sie hatte große Augen, schwarze Wimpern, und zwischen ihren Augen saß eine winzige, gerade, aristokratische Nase, die einen gewissen Gegensatz zu den weichen, einladenden Rundungen ihres roten Mundes bildete.
Ihre Lippen waren leicht geöffnet und ihre Augen groß und leuchtend, als sie einen Moment hinauf zum Mond blickte, ohne zu wissen, daß sie beobachtet wurde.
Sie trug ein durchsichtiges Gewand, das unterhalb ihrer Brüste mit Silberbändern zusammengehalten wurde, über ihre Schultern hatte sie einen mit Schwanendaunen besetzten Schal aus weißem, Samt gelegt.
Es erschien Armand nur selbstverständlich, daß sie aus diesem Tempel trat - keine Göttin, die je dem Olymp entstiegen war, hätte sich für diese Rolle besser geeignet.
Die Melodie, die sie summte, brach ab. Wieder sah sie hinauf zum Mond und seufzte, als hauche sie einen Wunsch oder ein Gebet gen Himmel und schaue, wie es langsam nach oben entschwebte. Doch auf einmal spürte sie, daß sie beobachtet wurde.
Sie wandte hastig den Kopf und entdeckte Armand. Einen Moment bewegte sich keiner von beiden, dann fuhr sich das Mädchen mit der Hand an den Busen, als wolle es sein plötzlich