Einmal, als sie im Dorf einkaufen ging, sah sie durch eine offene Tür in einem Geschäft einen goldgerahmten Spiegel stehen, der früher im Schlafzimmer ihres Vaters gehangen hatte. Sie hatte nur darauf gestarrt, ohne etwas zu sagen, worauf der Besitzer des Ladens, dem ihr Blick nicht entgangen war, vor Verlegenheit dunkelrot anlief.
Am nächsten Morgen lag der Spiegel draußen vor der Tür des Châteaus. Derartige kleine Gesten rührten Rêve und gaben ihr das Gefühl, wieder unter ihren Leuten zu leben.
Aber die Qualen, die sie in jenen Jahren, als sie ohne Heimat und ständig auf der Flucht mit Antoinette durch das Land zog, ausgestanden hatte, vergaß sie nicht so leicht.
Anfangs war sie noch sehr jung gewesen und hatte von einem Tag zum anderen gelebt; doch als sie älter wurde, merkte sie allmählich, wieviel ihr von dem Leben, das ihr eigentlich zustand, versagt blieb, von den Gefährten, die sie hätte haben können und von der Stellung, die sie hätte genießen sollen.
Erst als Napoleon Bonaparte an die Macht kam und die Franzosen, sich wieder anständig und zivilisiert benahmen, machte Rêves Leben eine zweite Verwandlung durch.
Inzwischen war es Antoinette gelungen, mit einigen von Rêves Verwandten aus Paris in Verbindung zu treten. Es handelte sich dabei um schwerfällige, verarmte Vettern, die so unbedeutend waren, daß sie die Wut der Revolutionäre nicht auf sich gezogen und daher während der Jahre des Terrors ungestört und unbemerkt gelebt hatten.
Sie empfingen Rêve so herzlich sie konnten, doch gaben sie ihr und der treuen Antoinette sehr wohl zu verstehen, daß sie keine Lust hatten, einem wenn auch bezaubernden sechzehnjährigen Mädchen und dessen Kinderschwester für immer ein Zuhause zu bieten.
Sie besprachen alles offen miteinander. Ihr Cousin François, ein Mann mittleren Alters, den nur eines im Leben wirklich interessierte, nämlich das Sammeln antiker Münzen, fragte einen Advokaten, mit dem er auf freundschaftlichem Fuß stand, um Rat.
Der Rechtsanwalt teilte ihm mit, daß man den Émigrés gestattet habe, nach Hause zurückzukehren, und daß Napoleon dabei sei, einigen von ihnen das Eigentum und die Häuser zurückzugeben, die man ihnen während der Revolution genommen hatte.
Aufgrund dieser Nachricht besprach die Familie nun, was für Rêve am Ratsamsten wäre. Sie könnte beim Zivilgericht ein Gesuch einreichen oder an den großen Napoleon höchstpersönlich herantreten oder aber ins Château zurückkehren und versuchen, sich dort niederzulassen, denn wie sie wußten, stand es leer. Rêve selbst traf die endgültige Entscheidung.
»Ich werde selbst mit dem Kaiser sprechen«, sagte sie.
In den Tuilerien, wo Napoleon residierte, gelang es ihr mit den damals üblichen Methoden, Schmeicheleien und Bestechung der Hofbeamten, sich Eintritt in das Vorzimmer zu verschaffen, wo diejenigen, die eine Audienz beim Kaiser wünschten, warteten, bis sie an die Reihe kamen. Manchmal vergingen Monate, bis sie ihr Anliegen vortragen konnten.
Nach all den Jahren, in denen Rêve unter den Bauern gelebt und weder Geld noch Güter besessen hatte, war sie im ersten Moment überwältigt von der Pracht und dem Luxus des Palastes, von den grün-goldenen Livreen der Diener, von den Pagen mit ihren Goldketten und Medaillen, von den mit Orden behängten Sicherheitsbeamten. All das blendete sie so sehr wie Bilder aus einem Märchen.
Sie erblickte die Einrichtungen der verschiedenen Salons - in einem hingen Wandbehänge aus einem blau lila Glanzgewebe, die mit einem kastanienbraunen Geißblattmuster bestickt waren.
Ein anderer war mit Satin in Gelb und Braun und Fransen in sang de boeuf ausgestattet; um die Spiegel waren an Stelle von Rahmen Stoffe drapiert. Darunter standen Tische aus Porphyr und wertvollem Marmor mit Vasen aus kostbarem Sèvresporzellan oder aus Granit, in Goldbronze gefaßt.
Unbezahlbare Schätze zierten die Wände. Da Napoleon einen Sieg nach dem anderen errang, war es nicht verwunderlich, daß seine Paläste mehr und mehr an Aladins Höhle erinnerten.
Da hingen Gemälde von Rembrandt und van Dyck, die er den Holländern genommen hatte, antike Rüstungen aus der Wiener Sammlung, der Säbel Friedrichs des Großen von Preußen - lediglich aus England hatte er noch keine Beute.
All das war sehr verwirrend für ein Mädchen, das so viele Jahre hindurch nur Lumpen und eine Strohmatte gekannt hatte, das sich so oft gesehnt hatte nach der Kruste eines dunklen Schrotbrotes, für das ein Glas Milch ein Luxus, ein frisches Hühnerei ein Festmahl gewesen war.
Der Gegensatz war bitter, nicht nur für sie selbst, sondern für alle, die ihr auf der Flucht geholfen hatten, die sich nur mit äußerster Mühe von den erbärmlichen Ernteerträgen ernährten und dabei eine Vielzahl von Steuern zu zahlen hatten.
Für einen Augenblick wurde sie von dem heftigen Verlangen erfaßt, diesen korsischen Abenteurer öffentlich zu rügen, diesen Mann, der durch die Revolution an die Macht gelangt war und sich jetzt mit genau den Extravaganzen umgab, die ursprünglich die Flamme des Aufstands entzündet hatten.
Aber gleich darauf faßte sich Rêve wieder und zwang sich, ihre Gefühle zu unterdrücken. Schließlich war sie hierhergekommen, um etwas ganz Bestimmtes zu erlangen, und nur durch Ruhe und Besonnenheit konnte sie sich einen Erfolg erhoffen.
Es dauerte drei Wochen, bis endlich ihre Chance kam.
Der Kaiser, dessen Audienz soeben beendet war, durchquerte das Vorzimmer, und während die anderen ehrfurchtsvoll zurücktraten, eilte Rêve nach vorn und warf sich vor ihm auf die Knie.
Bevor die Beamten sie beiseite drängen konnten, hatte sie in sein Gesicht geblickt und leise gesagt: »Ich flehe Euch um einen Gefallen an, Sire!«
Er sah auf sie hinab, und seinen kalten, stahlgrauen Augen entging weder ihre Jugend noch ihre Schönheit. Napoleon konnte einer schönen Frau niemals widerstehen.
»Wer sind Sie?« fragte er mit schneidender Stimme, fast so, als erteile er einen Befehl.
»Ich bin die Comtesse Rêve de Valmont, und ich bin hier, um Sie zu bitten, mir mein Gut in St. Denis zurückzugeben.«
Ein Beamter, ein überheblicher Mann mittleren Alters mit einer harten, hochmütigen Miene, trat vor.
»Diese Bitte, Euer Majestät, kann wie gewöhnlich von den dazu Beauftragten untersucht werden. Es besteht kein Grund, warum diese junge Frau Sie persönlich belästigen sollte.«
Napoleon ignorierte diese Unterbrechung. Sein Blick ruhte auf Rêves herzförmigem Gesicht und den reizvollen, großen Augen, die ihn flehentlich ansahen.
»De Valmont...«, sagte er gedehnt. »War Ihr Vater Graf Maxime de Valmont?«
»Ja, Sire.«
»Lebt er noch?«
»Nein, Sire. Er starb unter der Guillotine.«
»Wenn er noch lebte, wie alt wäre er jetzt?«
Rêve dachte kurz nach.
»Er wurde 1761 geboren.«
Napoleon nickte. »Das dachte ich mir doch! Er war mit mir zusammen auf der Militärschule in Brienne. Ich erinnere mich noch an ihn! Er war einmal sehr nett zu mir. Er lud mich zum Essen ein, als ich Hunger hatte. Sie sollen Ihren Besitz zurückbekommen. Und du leitest das in die Wege!«
Letzteres galt dem Beamten, der sich hatte einmischen wollen. Rêve hatte sich noch nicht ganz von ihrer Überraschung erholt und begann erst allmählich, das Geschehene zu begreifen und sich darüber zu freuen. Der große Napoleon war schon längst weitergegangen, und das Vorzimmer leerte sich.
Ihre erste Freude über die Rückkehr ins Château dauerte nicht lange; sie mußte feststellen, daß es dort noch sehr viel zu tun gab, bevor sie überhaupt wieder