Dantra staunte nicht schlecht. Allerdings mehr über den leuchtenden Stein als über das Naturbauwerk, in dem sie sich befanden. „Was ist das?“, fragte er, während sein Zeigefinger sich langsam auf den Stein zubewegte.
„Finger weg!“ Dantra zuckte zurück. „Das ist ein Lumenkristall. Wenn du ihn berührst, verliert er seine Leuchtkraft.“ Ihr Ton entsprach ihrer noch immer schlechten Laune. Aber Dantra merkte, wie sie ihm beim Versuch, die Selbstbeherrschung nicht zu verlieren, folgte. „Es ist ein Kristall, der lediglich in einem kleinen Berg im Fallgebirge vorkommt. Und nur, wenn diese Kristalle von Elben abgebaut werden, erlangen sie ihre Magie. Ich habe ihn von meinen Eltern bekommen und sie hatten ihn wie auch meine Pfeile, meinen Bogen sowie meinen Umhang von ...“ Akinna stockte. Und horchte.
„Was ist los?“, flüsterte Dantra.
Sie jedoch legte als Antwort einen Finger auf den Mund, sodass er schwieg und stattdessen vergebens versuchte zu hören, was sie hörte. Akinna beugte sich vornüber und flüsterte Dantra ins Ohr: „Halt mal bitte die Luft an.“
Er sah sie verwirrt an. Mit ihrer Mimik verdeutlichte sie noch einmal ihre Aufforderung. Also holte er tief Luft und verharrte absolut geräuschlos. Noch bevor er sich weitere Gedanken über ihr Verhalten machen konnte, war sie schon aufgesprungen und hatte einen Pfeil abschussbereit auf die Sehne gelegt. Dantra wusste zwar nicht, was los war, sprang aber dennoch auf und zog sein Schwert.
„Komm raus oder dein Tod ist dir sicher!“, rief Akinna in einen der dunklen, breiten Äste hinein.
Nichts tat sich.
Verstört sah Dantra seine Begleiterin an. „Was ist denn ...“
Akinna fiel ihm laut rufend ins Wort, als sie ihre Drohung wiederholte. „Es ist deine letzte Chance. So tief kannst du gar nicht in diesen verfluchten Ast reinkriechen, dass ich dich mit meinem Pfeil nicht erwische.“
Es dauerte noch einen kleinen Moment, dann hörte auch Dantra etwas. Ein Schaben, ein Kratzen und das Rasseln von Metall.
Ein Mann, den Dantra auf 40 Jahre schätzte, erschien im Lichtschein und sprang aus dem Ast heraus zu Boden. Unter dem abschussbereiten Pfeil von Akinna erhob er sich. Er war vielleicht einen halben Kopf größer als Dantra, hatte kurzes, helles Haar und blaue Augen, aus denen er abwechselnd unsichere Blicke auf die beiden warf. Sein Gesichtsausdruck, seine Körperhaltung, nichts deutete darauf hin, dass er auf einen Kampf aus war. Seine Kleidung jedoch entkräftete diese Annahme bis zur Bedeutungslosigkeit. Er trug die Uniform der Zerrocks!
„Mein Name ist Inius.“ Seine Stimme klang brüchig. „Ich nehme jetzt mein Schwert von meinem Gürtel und gebe es euch als Zeichen, dass ich euch nichts tun will.“
„Du meinst, als Zeichen, dass du nicht sterben willst“, verbesserte ihn Akinna. Ihre Stimme war wie gewohnt fest und zu allem entschlossen.
„Ja, natürlich. Das habe ich gemeint.“ Der Mann löste ganz langsam seine Waffe von ihrer Halterung und legte sie vor sich auf den Boden.
„Die Messer“, forderte Akinna ihn auf. „Du bist ein Pes-Zerrock einer Civitas-Einheit. Das erkenne ich an deiner Uniform. Zu eurer Ausrüstung gehört ein Messer am Hosenbund hinterm Rücken und eines im Stiefel.“
Der Mann sah sie etwas verwundert an. Dass jemand solche Kenntnisse über die Bewaffnung der Zerrocks hatte, fand er sicherlich seltsam, jedoch machte er keine Anstalten, sie eines Besseren zu belehren und den Besitz der Messer abzustreiten. Stattdessen holte er diese ebenfalls ganz langsam hervor und legte sie neben sein Schwert.
„Nimm die Waffen“, forderte Akinna Dantra auf.
Dieser steckte sein Schwert weg, nahm die Waffen und legte sie hinter Akinna.
„Ich bin kein Zerrock. Nicht mehr.“ Der Blick des Mannes schweifte von ihnen weg. „Also, zumindest ... glaube ich das.“ Seine Gedanken folgten seinem Blick. Es schien, als hätte er kurz vergessen, wo und in welcher Situation er sich gerade befand.
Nach einem Moment der Stille holte Akinnas barscher Ton ihn zurück in seine bedrohliche Lage. „Du trägst die Uniform eines Zerrocks, also bist du ein Zerrock. Die einzigen zwei Fragen, die es zu klären gilt, sind: Woher kennst du dieses Versteck und sind noch mehr von deiner Einheit in der Gegend?“
„Nein, ich bin allein.“ Erst jetzt schien er Akinnas Pfeil, der unverändert auf sein Herz gerichtet war, richtig wahrzunehmen. „Ich weiß nicht, ob noch mehr Zerrocks hier in der Nähe sind. Aber wenn, dann weil sie nach mir suchen. Daher habe ich mich hier versteckt. Ich bin seit gestern auf der Flucht vor ihnen. Als ich am schwarzen Baumwald entlanglief, fiel mir das dichte Dornengebüsch auf. Eigentlich wollte ich mich nur unter ihm, vor suchenden Blicken geschützt, ausruhen. Dann aber habe ich das Loch im Baum gesehen und bin hier hereingekrochen. Ich bin wohl kurz eingeschlafen. Eure Stimmen haben mich geweckt. Da ich nicht wusste, wer ihr seid und ob ihr hier hereinkommt, bin ich vorsichtshalber in den Ast gekrochen. Wie hast du mich eigentlich gehört? Ich habe doch gar kein Geräusch von mir gegeben.“
„Ich habe dich atmen hören, so wie ich dich gleich sterben höre.“
Das Gesicht des Mannes, das ohnehin schon blass aussah im fahlen Licht des Kristalls, verlor nun auch noch seine letzten Farbschattierungen. Auf der Suche nach den richtigen Worten, die Akinna vielleicht gnädig stimmen könnten, öffnete er seinen Mund, als Dantra nun seinerseits das Wort ergriff.
„Meinst du, dass das wirklich nötig ist?“, fragte er Akinna, ohne dabei sein Gegenüber aus den Augen zu verlieren.
Ihre Antwort war unmissverständlich. „Entweder er oder wir!“
„Aber glaub mir doch“, Inius sprach jetzt nur noch zu Akinna, „ich werde euch nichts tun. Das schwöre ich.“
„Du vielleicht nicht, aber der Rest deiner Einheit oder irgendwelche anderen Zerrocks, an die du uns verrätst.“
„Sollte ich je wieder einem Zerrock begegnen, so werde ich tot sein, bevor ich auch nur ein Wort sagen kann.“
„Warum? Was hast du denn getan?“ Dantras Neugierde war geweckt.
„Ich werde es euch erzählen, aber kannst du bitte vorher ...“ Er deutete auf Akinnas Pfeil. Sie wusste natürlich, was er von ihr wollte, zögerte aber, seiner Bitte nachzukommen.
Dantra beugte sich etwas zu ihr hinüber und flüsterte: „Wir wissen doch beide, dass du ihm schneller einen Pfeil zwischen die Augen schießt, selbst wenn dein Bogen neben dir liegt, als er für den Gedanken bräuchte, uns anzugreifen.“ Dantras Argument entsprach nicht nur der Wahrheit, es schmeichelte ihr auch.
„Setzen!“, befahl sie Inius, und erst als er ihre Anweisung befolgt hatte, ließ sie Pfeil und Bogen sinken, jedoch ohne sie aus der Hand zu legen, und setzte sich ebenfalls.
Dantra, der es ihnen natürlich sofort gleichtat, nutzte die aufgekommene Stille für eine weitere Frage, noch bevor der Zerrock die erste beantworten konnte. „Was ist das eigentlich für ein seltsamer Name, Inius?“
„Anhand meines Namens könnte man herausfinden, wo und wann ich geboren wurde“, erklärte er. „Wenn man als Säugling auserwählt wird, ein Zerrock zu werden, so erlischt für einen das Leben seiner Vorfahren. Aber um die Spur nicht ganz zu verlieren, haben sich die Drachen ein Verfahren ausgedacht, das dieses verhindern soll. Das erste I steht für den Zuständigkeitsbereich, in dem man auf die Welt kam. N für den genauen Geburtsort, das nächste I für das Geburtsjahr, U für den Tag und S ist der Anfangsbuchstabe des Namens meines Vaters.“
„Du weißt ziemlich viel über dieses System“, merkte Akinna argwöhnisch an. „Meines Wissens sollen Zerrocks diese Kenntnisse gar nicht haben.