Als die beiden den leicht verwitterten Steg betraten, erschienen zwei junge Männer auf dem Deck und schoben eine schmale Landungsbrücke zu ihnen herüber. Akinna und Dantra balancierten zwischen den Palisaden hindurch an Deck und sogleich wurde Akinna mit freudigen Gesichtern begrüßt. Bei dem Anblick von Dantra jedoch wurden die Mienen ernster. Die gesamte Haltung der Männer wurde aufrechter und mit einem Gemisch aus Demut und Faszination senkten sie ihre Köpfe.
Dantra war von dieser Geste eher genervt als erfreut. Er wusste, dass Akinna vor zwei Tagen kurz die Gelegenheit gehabt hatte, mit Nomos, der noch immer auf dem Weg zu seiner neuen, sicheren Unterkunft war, zu sprechen. Dantra hatte sie gebeten, ihm nichts von seinem siegreichen Kampf gegen den Drachen zu erzählen. Denn gerade so ein Verhalten ihm gegenüber, wie das der zwei jungen Männer eben, wollte er vermeiden. Nichts lag ihm ferner, als dass noch mehr Menschen ihre Hoffnung auf die Befreiung von der Drachentyrannei auf ihn stützten.
Was im Felsenwald vor drei Tagen geschehen war, war sicherlich ein wegweisender Sieg gewesen. Aber die Annahme, dass er dieses Abwehrverhalten bei einem erneuten Angriff gegen eine oder gar mehrere dieser Kreaturen leisten könnte, war doch eher fraglich. Und wenn man es besonders kritisch sehen wollte, musste man sogar zugeben, dass er gar keinen Sieg gegen den Drachen davongetragen hatte, sondern nur ein Unentschieden erreichen konnte. Jedenfalls sah Dantra keinen Grund, schon jetzt nach so kurzer Zeit und mit so vielen offenen Fragen alle davon wissen zu lassen.
Aus einer Luke an Deck kam nun ein wesentlich älterer, bärtiger Mann heraus. Er war etwas untersetzt und von großer Statur. Seine halb zugekniffenen Augen weiteten sich erst, als er Akinna herzlichst auf seinem Schiff begrüßte. Danach sah er auf Dantra herab. Und zwar auf eine Art, die ihm vor einigen Tagen noch missfallen hätte, nun aber ein Gefühl der Erleichterung verursachte. Denn Zweifel und Unsicherheit zeichneten einige wulstige Falten auf das breite Gesicht des Mannes.
„Und du bist Dantra?“, fragte er mit rauer Stimme.
„Ja, bin ich.“
„Hast du wirklich das getan, was man mir berichtet hat?“
Nach einem bösen Blick zu Akinna, die diesen in Gleichgültigkeit umgewandelt zurückwarf, antwortete er: „Ich weiß nicht, ob meine Tat etwas ausgeschmückt wurde ...“
„Wurde sie nicht“, fiel ihm Akinna bestimmt, aber dennoch höflich ins Wort.
Dantra sah sie erneut böse an. „Nun“, fuhr er fort, „dann habe ich wohl getan, was berichtet wurde.“
„Wenn das so ist ...“ Die Miene seines Gegenübers ließ gleichermaßen Restzweifel wie auch Freude über das Gehörte erkennen. „Herzlich willkommen auf der Balaena zwei. Ich bin Kapitän Irretio. Das sind zwei meiner Söhne.“ Er deutete auf die beiden jungen Männer, die sie an Bord gelassen hatten. „Das ist Tashtego.“ Der scheinbar Ältere nickte kurz. „Und das ist Flask, mein Zweitgeborener.“ Auch er nickte. „Lasst uns unter Deck gehen. Die anderen brennen darauf, dich, Akinna, endlich wiederzusehen und dich, Dantra, kennenzulernen.“ Während sie auf die Luke zugingen, befahl der Kapitän: „Flask, mach die Leinen los. Tashtego, du hast das Kommando. Bring uns auf Fahrt.“
Beide ließen ein begeistertes „Ja, Kapitän“ hören und eilten zu ihren Positionen.
Die Treppe, die unter Deck führte, endete in einem schmalen Gang, der, wie sich später herausstellte, einmal um das ganze Schiff verlief. Alles, was von ihm aus gesehen zur Schiffsmitte hin lag, war Laderaum. Vorn im Bug führte er an drei Schlafkammern vorbei. Eine für die Jungs, eine für die Mädchen und die letzte für die Eltern. Durch die Kajüte der Jungs gelangte man in die Abwehrstellung, die Dantra vorn am Schiff gesehen hatte. Die anderen lagen direkt am Gang. Um sie zu nutzen, stieg man auf ein Podest, sodass sich nur der Oberkörper in der eigentlichen Stellung befand. Damit hatte man genug Freiheit, um mit Pfeil und Bogen Angreifer zu bekämpfen. Hinten im Heck lagen zwei weitere Räume, die mit einer zusätzlichen Tür verbunden waren. Ein kleinerer, der als Kombüse genutzt wurde, und ein größerer, der als Wohnkajüte hergerichtet war. In ihm stand ein langer Tisch mit fünf Stühlen daran. Einige Schränke standen dort und einige Regale hingen an den Wänden. In einer der Ecken war ein einladend aussehender Ohrensessel aufgestellt, vor dem weiße, warme Schafwolldecken lagen. Links von ihm stand eine schwere Eichentruhe mit Eisenbeschlägen, auf der anderen Seite ein kleiner Ofen mit einigen Holzscheiten in einem Weidenkorb. Die Bilder an den Wänden und die kleinen, gehäkelten Deckchen auf dem Tisch und auf einigen Regalböden ließen den Raum warm und gemütlich wirken.
Als Akinna und Dantra eintraten, stürmten ein Junge und ein Mädchen, die gerade noch mit kleinen Holzfiguren auf dem Bretterboden gespielt hatten, auf Akinna zu und umarmten sie herzlichst. Das Alter der Kinder schätzte Dantra auf acht oder neun Jahre. Was man aber mit Sicherheit sagen konnte war, dass sie die Geschwister der zwei jungen Männer waren, die oben an Deck ihre Aufgaben verrichteten. Die Ähnlichkeit war unübersehbar.
Aus dem Nebenraum kam eine groß gewachsene Frau mit langen, dunkelblonden, aufgedrehten Haaren. Sie trug ein Baby auf dem Arm, das genauso strahlte, als es die Neuankömmlinge sah, wie die Mutter selbst. Sie wurden auf dem Weg aus der Kombüse von einem herrlichen Duft nach gekochtem Gemüse mit Fleischeinlage begleitet. Auch die Mutter begrüßte Akinna wie einen alten, lange nicht gesehenen Freund.
Nun war er wieder da. Der Moment der bohrenden Blicke. Denn alle sahen Dantra an. Unbehagen überkam ihn wie schon auf Deck, als Tashtego und Flask ihn bewundernd und unterwürfig angestarrt hatten. Der Kapitän verscheuchte jedoch mit seiner lauten Kommandostimme schnell die unangenehme Stille.
„Dantra, das ist meine Frau Elija. Dies sind die Zwillinge Pip und Fedallah. Und die kleine Speckschwarte hier“, er deutete auf das Baby, „ist unser jüngstes Familienmitglied. Der junge Mann heißt Bymo.“
Dantra nickte verlegen, da er die Vorstellungsrunde damit für beendet hielt.
Irretio jedoch richtete nun das Wort an seine Familie und ließ damit die zuvor herrschende unangenehme Stille wieder aufkommen. „Elija, Kinder, das ist Dantra. Die wohl wertvollste Fracht, die wir je an Bord der Balaena zwei hatten.“
Als sie kurz darauf am Mittagstisch saßen und sich den kräftigen Eintopf schmecken ließen, war Dantras Unbehagen vergessen. Die Zwillinge alberten herum, das Baby kaute auf einer weichen Brotkruste und der Kapitän wie auch Elija plauderten gut gelaunt mit Akinna.
Noch während Dantra sich den letzten Löffel in den Mund schob, fragte ihn Irretio: „So, nun erzähl doch mal. Wie hast du den Drachen in die Flucht geschlagen?“ Als hätte jemand mit der Faust auf den Tisch getrommelt, ruhten Stimmengewirr und alle Blicke auf Dantra. Selbst der kleine Bymo hatte aufgehört, das Brot mit seinem zahnlosen Mund zu Brei zu zermahlen.
„Ich ... also ...“ Da war sie schon wieder, die ungeteilte Aufmerksamkeit, die auf ihm lag und von der er gerne reichlich abgegeben hätte. „Es ist nicht so, als wäre ich mit dem Vorsatz hingegangen, unbedingt mit ihm kämpfen zu wollen.“ Dantra versuchte bewusst, das ganze Szenario etwas herunterzuspielen. „Akinna und Mac waren direkt neben mir. Irgendetwas war geschehen. Doch der Drache suchte den Augenkontakt mit mir. Ich wusste, er wartet nur darauf, dass ich unaufmerksam bin und den Blick von ihm nehme, damit er mich mit seinem Feuer umbringen