Geh nie alleine essen! - Neuauflage. Keith Ferrazzi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Keith Ferrazzi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783864707117
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fragend anschauen. Die Hälfte der Anwesenden meint, ich würde mir einen Scherz erlauben; die andere Hälfte meint, sie hätte lieber ein Bier trinken gehen sollen, anstatt meinen Vortrag zu hören.

      Ich fahre fort, indem ich den Studenten erkläre, dass mein Vater Stahlarbeiter in Pennsylvania war und dass er für mich mehr wollte, als er jemals hatte. Er äußerte diesen Wunsch einem Mann gegenüber, dem er bislang noch nie begegnet war, und zwar dem CEO seines Arbeitgebers, Alex McKenna.

      Mr. McKenna gefiel der Schneid meines Vaters und er verhalf mir zu einem Stipendium an einer der besten Privatschulen des Landes, in deren Kuratorium er saß.

      Elsie Hillman, die Vorsitzende der Republikanischen Partei in Pennsylvania, die ich kennenlernte, nachdem sie in der New York Times gelesen hatte, dass ich mich während meines zweiten Studienjahres in Yale vergebens für das New Haven City Council beworben hatte, lieh mir Geld, gab mir Ratschläge und ermutigte mich, auf eine Business School zu gehen.

      Ich sage den Studenten, dass ich damals in ihrem Alter war und dass ich so ziemlich die besten Bildungschancen der Welt bekam – fast ausschließlich dank der Großzügigkeit Dritter.

      „Aber“, so fahre ich dann fort, „jetzt kommt der schwierige Teil: Sie müssen mehr als nur bereit sein, Großzügigkeiten anzunehmen: Oft müssen Sie hinausgehen und sie verlangen.“

      Sofort sehe ich am Blick der Studenten, dass sie sich darin wiedererkennen. Fast jeder im Raum musste schon einmal jemanden wegen eines Bewerbungsgesprächs, eines Praktikums oder eines kostenlosen Rats um Hilfe bitten. Und die meisten haben das nur widerwillig getan. Aber solange man nicht genauso bereit ist, um Hilfe zu bitten, wie Hilfe zu gewähren, arbeitet man nur auf einer Seite der Gleichung.

      Das meine ich mit „Connecting“. Es ist ein stetiger Prozess des Gebens und Nehmens – um Hilfe bitten und Hilfe bieten. Wenn man Menschen miteinander in Kontakt bringt, wenn man seine Zeit und seine Kenntnisse freigebig teilt, wird der Kuchen für alle größer.

      In den Ohren derjenigen, die in der Geschäftswelt zu Zynikern geworden sind, mag diese karmisch angehauchte Sichtweise der Dinge naiv klingen. In den heiligen Hallen der amerikanischen Unternehmenswelt wird die Macht der Großzügigkeit zwar weder vollständig gewürdigt noch angewendet, aber ihr Wert in der Welt des Networkings ist erwiesen.

      Mir macht es zum Beispiel Spaß, Tipps und Ratschläge für Karrieren zu geben. Das ist fast schon ein Hobby. Ich habe das schon bei Hunderten jungen Menschen gemacht und es befriedigt mich außerordentlich, wenn ich später von ihnen höre, wie sich ihre Karriere entwickelt. Es gibt Momente, da kann ich im Leben eines jungen Menschen viel bewirken. Ich kann eine Tür öffnen, einen Anruf tätigen oder ein Praktikum organisieren – das sind die einfachen Dinge, die Schicksale verändern. Doch allzu oft wird mein Angebot zurückgewiesen.

      Der Empfänger sagt zum Beispiel: „Tut mir leid, aber ich kann diesen Gefallen nicht annehmen, weil ich nicht weiß, ob ich ihn je zurückzahlen kann.“ oder: „Ich will niemandem verpflichtet sein, deshalb muss ich passen.“ Manchmal beharren die Menschen sofort und auf der Stelle darauf, den Gefallen irgendwie zu erwidern. Nichts macht mich wütender als eine solche Blindheit dafür, wie so etwas funktioniert. Und das ist auch keine – wie man ja annehmen könnte – Frage der Generation. Ich habe solche Reaktionen schon von Menschen aller Altersklassen und in allen Lebensbereichen erhalten.

      Ein Netzwerk funktioniert genau deswegen, weil man gegenseitig anerkennt, dass man einander braucht. Es gibt ein stillschweigendes Einverständnis, dass die Investition von Zeit und Energie in persönliche Beziehungen mit den richtigen Menschen eine Dividende abwirft. Die meisten Angehörigen des „obersten einen Prozents“ gehören deswegen zu dieser Schicht, weil sie diese Dynamik begreifen; sie haben nämlich selbst die Macht ihres Netzwerks aus Kontakten und Freunden benutzt, um dort hinzukommen, wo sie jetzt stehen.

      Dafür muss man aber zunächst aufhören, alles aufzurechnen. Man kann kein Netz aus Verbindungen aufbauen, wenn man nicht mit gleichem Eifer Verbindungen zu anderen knüpft. Je mehr Menschen man hilft, desto mehr Hilfe bekommt man selbst und umso mehr Hilfe bekommt man, um anderen zu helfen. Das ist wie mit dem Internet. Je mehr Menschen dazu Zugang haben und je mehr Menschen es benutzen, umso nützlicher wird es. Ich weiß, dass ich eine kleine Armee aus ehemaligen Schützlingen habe, die in allen möglichen Branchen Erfolg haben und mir helfen können, als Mentor für die jungen Menschen zu fungieren, die heute zu mir kommen.

      Das ist kein warmherziger Schnickschnack; es ist eine Erkenntnis, die starrköpfige Geschäftsleute lieber ernst nehmen sollten. Einen Wettbewerbsvorteil erlangte man im Industriezeitalter, indem man ständig Prozesse und Systeme weiterentwickelte. Heute gewinnt man ihn, indem man Beziehungen verbessert.

      Informationen sind, anders als andere materielle Ressourcen, im Fluss: Sie können jederzeit erscheinen (entdeckt oder kommuniziert werden) oder verschwinden (veralten). Die besten Informationen in dem Moment zu haben, in dem man sie braucht, erfordert Höchstleistungen an Zusammenarbeit, Mitgestaltung und Kommunikation – das Schmieden von Beziehungen und die Netzwerke, die für sie bestimmte Aufgaben übernehmen.

      Wir leben in einer Welt, in der wir voneinander abhängig sind. Flache Hierarchien streben bei jeder Gelegenheit Allianzen an. Immer mehr Freiberufler merken, dass sie mit anderen zusammenarbeiten müssen, um ihre Ziele zu erreichen. Nullsummenspiele, bei denen nur eine Partei gewinnt, bedeuten heute mehr denn je, dass auf lange Sicht beide Parteien verlieren. In der vernetzten Welt ist „Win-win“ eine notwendige Realität. In einem hyper-vernetzten Markt läuft die Kooperation der Konkurrenz den Rang ab.

      Das Spiel hat sich gewandelt.

      William Whyte skizzierte im Jahre 1956 in seinem Bestseller The Organization Man den Archetyp des amerikanischen Arbeiters: Wir zogen den grauen Anzug an, arbeiteten in einem Großunternehmen und boten unsere Loyalität im Austausch gegen einen sicheren Arbeitsplatz an. Die vertraglich festgelegte Knechtschaft wurde glorifiziert, aber sie ließ kaum Spielraum und bot wenig Chancen. Heute bieten die Arbeitgeber nur noch wenig Loyalität und die Arbeitnehmer gar keine. Unsere Karrieren sind keine Wege mehr, sondern eher Landschaften, die wir durchqueren. Wir sind Freiberufler, Entrepreneure und Intrapreneure – jeder mit seiner eigenen Marke.

      Viele Menschen haben sich an die neue Zeit angepasst und dabei den Glauben beibehalten, dass den letzten die Hunde beißen und der gemeinste und fieseste Hund in der Nachbarschaft gewinnt. Aber nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein.

      Früher fand man als Arbeitnehmer Großzügigkeit und Loyalität im Unternehmen, heute müssen wir sie in unserem eigenen Beziehungsnetz finden. Dabei geht es aber nicht mehr um die blinde Loyalität und Großzügigkeit, die wir einst dem Arbeitgeber boten. Loyalität und Großzügigkeit sind heute eher persönlicher Natur und sie richten sich an die Kollegen, das Team, die Freunde und die Kunden.

      Wir brauchen einander heute mehr als je zuvor. Und das ist keine Sentimentalität, es ist wissenschaftlicher Fakt.

      In den letzten zehn Jahren haben Neurowissenschaftler, Psychologen und Wirtschaftswissenschaftler Quantensprünge bei unserem Verständnis gemacht, wieso einige ein glückliches, gesundes Leben führen und andere nicht. Es wurde dabei deutlich, dass wir nicht nur mit anderen verbunden sind. Wir sind das Produkt der Menschen und Netzwerke, mit denen wir verbunden sind. Wen Sie kennen bestimmt, wer Sie sind – wie Sie sich fühlen, wie Sie handeln und was sie erreichen.

      Das Magazin Wired hat das 2010 in einer Titelstory verpackt: „Das Geheimnis für Gesundheit und Glück? Gesunde und glückliche Freunde … Ein halbes Jahrhundert medizinischer Daten [hat] die Ansteckungskraft sozialer Netzwerke erkannt.“

      Traurigerweise stecken viele Menschen den Kopf in den Sand und versuchen immer noch so durchzukommen, als schrieben wir das Jahr 1950. Wir neigen zu einem romantischen Bild von Unabhängigkeit und sehen Autonomie als eine Tugend. Meiner Erfahrung nach ist eine solche Ansicht ein Karrierekiller. Autonomie ist eine Rettungsweste, die aus Sand gemacht ist. Unabhängige Menschen, die nicht in der Lage sind, vernetzt zu denken und zu handeln, mögen zwar für sich genommen sehr produktiv sein, aber sie können weder als gute Führungskräfte noch als gute Teamarbeiter gelten. Über kurz oder lang gerät