«Elizabeth!», rief der Skifahrer genau in dem Augenblick, in dem sie ihn erkannte. «Hallo!»
«Hyrum!», antwortete sie, und all ihre Angst und Sorge der letzten halben Stunde verflogen. Denn dies war Hyrum Crowley, der Referendar von Elizabeths Schule, den sie kannte, seit sie vor zehn Wochen an die Havenworth Akademie gekommen war – gleichzeitig mit Hyrum. Er unterrichtete sie nur zweimal pro Woche – in Englisch, dienstags und donnerstags, denn immerhin war er ja noch nicht mit seiner Ausbildung fertig –, aber Elizabeth hatte auch so schon den Eindruck, dass aus ihm ein ganz ausgezeichneter Lehrer werden würde. Dass er einundzwanzig Jahre alt war, seinen Abschluss an der renommierten Bruma Universität ganz in der Nähe gemacht hatte, sein schwarzes Haar stets gut gekämmt trug und fast genauso viele Bücher gelesen hatte wie Elizabeth (einschließlich ihres aktuellen Lieblingstitels, Der Gesang der Nachtigall) bestärkte sie nur in ihrer Einschätzung. Er war außerdem ziemlich nett, gerade alt genug, um erwachsen zu sein, aber noch nicht so alt, dass er das Gespür dafür verloren hatte, wie es ist, jung zu sein, zum Beispiel zwölfdreiviertel, so wie Elizabeth.
«Wow», rief Hyrum im Näherkommen. «Wie es aussieht, sind heute alle coolen Leute zum Skifahren unterwegs.»
Elizabeth lachte. «Kommen Sie aus der Stadt?», fragte sie, als Hyrum vor ihr anhielt. Er atmete schwer. Der Schneefall war dichter geworden und es ging jetzt beständig ein schneidender Wind. Elizabeth war Hyrum schon mindestens ein halbes Dutzend Mal auf den Loipen rund um das Winterhaus begegnet, und sie wusste, wie sehr er das Skifahren liebte.
«Richtig», antwortete er. Seine Augen strahlten. «Und es ist wirklich schön, dich hier draußen zu treffen.» Er schaute die Loipe entlang in die Richtung, aus der sie kam. «Bist du auf dem Heimweg?» Sie nickte, aber bevor sie etwas sagen konnte, kam er ihr zuvor. «Ich wette, du beeilst dich mit dem Nachhausekommen, weil du die Bio-Hausaufgaben von Mr. Karminsky noch nicht gemacht hast.»
Wieder lachte Elizabeth. «Das kriege ich noch hin.» Sie schob ihre Brille hoch.
«Ich treffe mich im Winterhaus mit dem Schulleiter», sagte Hyrum. Elizabeth erinnerte sich, dass Norbridge ihr gesagt hatte, er habe Professor Egil P. Fowles, den Rektor der Havenworth Akademie, zum Abendessen eingeladen. Mr. Fowles, ein netter, wenn auch sehr korrekter Mann, der seinen Tag durch regelmäßige Blicke auf seine Armbanduhr akkurat einteilte, war ein weiterer Grund, warum Elizabeth ihre neue Schule so gern mochte. Anders als auf der Schule in der kleinen Stadt Drere, wo sie seit ihrem vierten Lebensjahr bis zum letzten Weihnachtsfest bei ihrer Tante Purdy und ihrem Onkel Burlap gelebt hatte, machten alle Lehrer der Havenworth Akademie den Eindruck, als würden sie nicht nur ihre Arbeit mögen, sondern auch die Schüler. Und das war Elizabeths Meinung nach Egil P. Fowles zu verdanken, der in dieser Hinsicht mit gutem Beispiel voranging.
«Bleiben Sie auch zum Abendessen?», fragte Elizabeth und gab sich keine Mühe, ihre Hoffnung zu verhehlen, dass er Ja sagen würde.
«Eins habe ich in der kurzen Zeit, die ich bislang hier verbracht habe, gelernt», gab Hyrum gespielt feierlich zurück. «Wenn Mr. Norbridge Falls zum Abendessen einlädt, lehnt man nicht ab.» Er schaute zum Himmel hoch. «Aber wir sollten uns beim Fahren unterhalten, finde ich. Ich glaube nicht, dass sich die Sonne heute noch einmal blicken lässt.»
Die Loipe verschwand allmählich unter einer Schicht Neuschnee, und der Himmel wurde immer dunkler. Spätestens nach einer halben Stunde war Elizabeth heilfroh, dass sie Hyrum getroffen hatte. Sie fuhren nebeneinander her und unterhielten sich über die Schule, das Winterhaus, die gepflegten Loipen und über ein Thema, das sie beide liebten: Bücher. Über eine Sache allerdings bewahrte Elizabeth Stillschweigen, nämlich darüber, was sie entdeckt hatte, bevor sie sich begegnet waren: die geheimnisvolle, verlassene Mine und das rote Taschentuch am Baum. Sie erschauderte und bekam es bei dem Gedanken an diese stille und einsame Stelle in dem trichterförmigen Mineneingang regelrecht mit der Angst zu tun.
«Hast du kürzlich mal wieder etwas von meinem Großvater gelesen?», fragte Hyrum, nachdem Elizabeth ein paar Bücher erwähnt hatte, die sie in den letzten Wochen durchgeschmökert hatte.
Eine der vielen interessanten Seiten von Hyrum Crowley war sein Großvater, Damien Crowley, der nicht nur vor Jahren in der Nähe von Winterhaus gelebt hatte, sondern auch Autor von unheimlichen und makabren Geschichten war, die Elizabeth liebte. Sie hatte noch nicht alle seine Bücher gelesen – soviel sie wusste, hatte er insgesamt neunundneunzig Romane geschrieben –, aber das würde sie irgendwann schaffen.
«Ich bin gerade mit Jeder Regenbogen hat einen schwarzen Rand fertig geworden», sagte Elizabeth, als das Hotel Winterhaus golden schimmernd und bekrönt von zahlreichen Wimpeln mit einem großen «W» auf dem Dach aus der verschneiten Landschaft vor ihnen auftauchte.
«Das hat mir richtig gut gefallen», sagte Hyrum. «Der Leprechaun, der in Wahrheit ein Vampir ist! Wow, ich habe echt keine Ahnung, wie mein Großvater auf all diese Geschichten gekommen ist.»
«Als Nächstes will ich Dunkelheit am Ende des Tunnels lesen.»
«Viel Glück beim Einschlafen danach!»
«Ich glaube, mein Lieblingsbuch von ihm ist bislang Colin Dredmares Kammer der Verzweiflung», sagte Elizabeth.
«Der absolute Gruselfaktor!», sagte Hyrum. «Ich mag am liebsten Malcolm Ghastford und das Geheimnis des wachsenden Kerkers.»
Ein Ereignis, das Elizabeth seit über einem Jahr nicht mehr aus dem Kopf ging, war der seltsame Fund in Gracellas altem Zimmer im Winterhaus. Sie hatte sich einmal heimlich hineingeschlichen – das Betreten des Zimmers war streng verboten, obwohl es nichts Besonderes und abgesehen von ein paar Möbelstücken auch leer war. Aber in der Schublade der Kommode hatte sie ein Buch von Damien Crowley mit dem Titel Die geheime Unterweisung der Anna Lux gefunden, das sie nur einmal kurz aufgeschlagen und dann liegen gelassen hatte. Sie hatte es nie erwähnt, niemandem gegenüber. Gelegentlich war sie in Versuchung gewesen, noch einmal in Gracellas Zimmer zu gehen, um sich das Buch genauer anzuschauen, besonders weil nicht einmal Leona Springer, die Bibliothekarin des Hotels und Elizabeths gute Freundin, irgendwo eine weitere Ausgabe des Titels hatte auftreiben können, trotz ihrer vielen Kontakte zu anderen Bibliotheken. Aber Elizabeth wusste, dass sie Gracellas Zimmer nie mehr betreten durfte. Die Neugier hatte sie einmal übermannt, und sie hatte Norbridge nie gebeichtet, was sie getan hatte. Sie schwor sich, dass es bei diesem einen Mal bleiben würde.
Elizabeth überlegte, ob sie Hyrum nach dem Buch über Anna Lux fragen sollte. Aber noch während sie die letzten Bäume hinter sich ließen und in die weite Ebene vor dem Winterhaus glitten, kam er ihr zuvor und sagte: «Professor Fowles hat kürzlich erwähnt, dass du wahrscheinlich eines Tages Winterhaus leiten wirst, weil du Norbridges nächste Verwandte bist. Stimmt das?»
Die Frage schreckte Elizabeth auf, obwohl schon andere sie gestellt hatten. Aber sie war sich noch nicht schlüssig, wie sie selbst dazu stand. Sie liebte Winterhaus von ganzem Herzen und hielt sich für den glücklichsten Menschen auf der ganzen Welt, weil sie hier wohnen durfte. Aber der Gedanke, von Norbridge das Zepter zu übernehmen, verantwortlich zu sein für das ganze Hotel und jeden darin – das war zu viel für sie. Sie war zwölf Jahre alt, und es reichte ihr voll und ganz, hin und wieder in der Bibliothek auszuhelfen und pünktlich ihre Hausaufgaben abzuliefern.
«Ich weiß nicht», sagte Elizabeth, «wahrscheinlich schon …» Sie fühlte sich wie früher in Drere, wenn ihre Tante Purdy sie wegen einer fehlenden Socke oder einer anderen Kleinigkeit verhörte, mit der Elizabeth rein gar nichts zu tun gehabt hatte. Hyrums Frage hinterließ ein ängstliches und unsicheres Gefühl. Das Zischen der Skier im Schnee kam ihr plötzlich lauter vor, während sie überlegte, was sie sagen sollte.
«Wir sind fast da!», sagte Hyrum, und Elizabeth war froh, dass er die unbehagliche Stille durchbrochen hatte. In der Tat näherten sie sich