Elizabeth hielt an und betrachtete das Tuch. Es war ausgefranst und hing anscheinend schon eine ganze Weile da. Sie zupfte mit ihren behandschuhten Fingern daran, aber der Knoten war fest. Der Atem stand ihr in kleinen Wölkchen vor dem Gesicht, und der Schweiß auf ihrer Stirn wurde kalt, als ihr klar wurde, dass sie auf diesem Pfad noch nie so weit gefahren war. Sie drehte sich um und betrachtete das verschneite Tal, in dem sie sich befand. Nirgends waren Häuser zu sehen, nur winterkahle Tannen und Erlen und – weit im Osten – hohe Berge unter einem ergrauenden Himmel. Alles war still.
Wer bindet hier draußen, mitten im Nirgendwo, ein Tuch an einen Baum?, wunderte sich Elizabeth.
Noch einmal blickte sie sich um, dann musterte sie den Boden vor ihren Skispitzen. In dem Pulverschnee prangten Fußabdrücke, die von dem Baum auf einen Geländeanstieg zuführten, der etwa hundert Meter nördlich hinter der Biegung eines vereisten Bachs lag.
Das Gefühl überkam Elizabeth, diese mittlerweile vertraute Intuition – bei der ihr Magen absackte und es in ihrem Kopf zu surren begann –, dass hier in der Umgebung mehr verborgen lag, als man auf den ersten Blick sehen konnte: eine Überraschung, die auf sie wartete, vielleicht sogar eine Person.
«Hallo?», rief sie und schaute zu dem Hügel. «Ist hier jemand?»
Sie bekam keine Antwort. Nur der Wind seufzte in den Baumkronen, ehe es wieder ganz still wurde.
«Ich habe keine Angst», flüsterte Elizabeth.
Sie zog sich die Mütze tiefer über die Ohren, während sie noch einmal rechts und links die Loipe entlangschaute. Dann löste sie die Bindung ihrer Skischuhe, trat aus den Skiern und folgte den Fußspuren.
Direkt hinter dem gefrorenen Bach führten die Spuren einen gewaltigen verschneiten Erdwall hoch, dessen obere Kante bis zu den Kronen der ringsum stehenden Erlenbäume aufragte. Als Elizabeth ein paar Schritte weiter hinaufstieg, gelangte sie zum Rand eines baumlosen Kreises, der so riesig war, dass die Eisbahn des Hotels Winterhaus gut und gerne zehnmal hineingepasst hätte. Schneebemützte Felsblöcke bedeckten den Kreis. Was vor ihr lag, sah aus wie ein großer Teich, den man mit Felsgestein aufgefüllt hatte, eingefasst von einer wallartigen Böschung, auf der sie jetzt stand.
Was ist das bloß?, fragte sich Elizabeth.
Die Fußspuren zogen sich bis zu einer kleinen Lichtung inmitten der Felsbrocken hinunter, und Elizabeth folgte ihnen. Als sie den Boden der Senke erreichte, fiel ihr ein schiefer Pfosten auf, an dessen Spitze ein verbeultes Schild aus beige lackiertem Metall hing. Vor den schneebedeckten Steinen fiel es kaum auf. Es sah aus, als gehöre es zu der Landschaft. Elizabeth rieb sich den Schnee von der Brille und betrachtete das Schild. Die orangefarbenen Buchstaben waren so verblasst, dass man sie kaum noch lesen konnte.
GEFAHR! DIE RIPPLINGTON MINENGESELLSCHAFT ERKLÄRT DIESE MINE, DEN «SILBERWEG», FÜR GESCHLOSSEN! DIE MINE WURDE VERSIEGELT UND IST NICHT MEHR ZUGÄNGLICH! ZUR SICHERHEIT ALLER HABEN WIR DEN EINGANG AUFGESCHÜTTET, ABER WIR KÖNNEN KEINE HAFTUNG FÜR PERSONEN ÜBERNEHMEN, DIE VON DIESEM PUNKT AUS WEITERGEHEN! KEHREN SIE UM! ES IST NICHT SICHER HIER!
Elizabeth spürte ein Flattern in ihrer Brust. Sie wusste, dass sich die unzähligen Gänge des Silberwegs, der vor über einem Jahrhundert aufgegeben worden war, von hier aus in alle Richtungen erstreckten und unter dem Winterhaus ein wahres Labyrinth aus Tunneln bildeten. In einem dieser Gänge hatte Elizabeth vor fast drei Monaten Norbridges Schwester Gracella überwältigt, die Zauberin, die versucht hatte, Macht über sie zu erlangen. Sie wusste auch, dass Gracella zwar besiegt war, dass ihr Körper aber immer noch in jenem düsteren Tunnel unter der Erde lag. Durch eine dunkle Magie war ihr irdischer Leib nicht nur zu Stein erstarrt, er ließ sich auch keinen Zentimeter bewegen, und Norbridge hatte sie vorsorglich dort, wo sie lag, in Beton einschließen lassen und die Türen im Winterhaus, die zu den unterirdischen Gängen führten, versiegelt. Elizabeth wurde klar, dass der einzige Zugang zum Silberweg die kreisrunde Öffnung war, über der sie stand und die mit tonnenschwerem Felsgestein gefüllt war. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, als sie das verbeulte Warnschild noch einmal las.
Elizabeth wollte gerade umkehren, als sie unter ihren Füßen ein kaum merkliches Rumpeln wahrzunehmen glaubte. Es war wie ein weit entfernter Donner, und ein Teil von ihr war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt etwas gespürt hatte. Sie stand da und wartete ab, ob sich das Rumpeln wiederholen würde, aber alles blieb still.
Der Wind frischte auf, und als sich Elizabeth erneut abwenden wollte, war ihr, als ob ein schwacher blutroter Schimmer durch den Schnee in der Mitte der Felsbrocken dringen würde. Schnell schüttelte sie den Kopf und legte die Hand auf ihre Brust, wo unter ihrer Jacke der blausilberne Anhänger mit dem Wort «Glaube» darauf lag.
«Ich habe keine Angst», sagte sie.
Wieder kam eine Windböe, diesmal stärker als die erste. Elizabeth blickte noch einmal auf das Schild. Der Wind fegte nun über den kreisrunden, versiegelten Minenschacht, und Elizabeth drehte sich um und kraxelte die Böschung hinauf bis zum oberen Rand. Als sie sich ein letztes Mal zu der baumlosen Ebene umblickte, meinte sie wieder, im Zentrum einen trüben rötlichen Schimmer aufsteigen zu sehen. Aber das ist doch unmöglich, dachte sie. Gleichzeitig drohte die Angst, die in ihr aufstieg, sich zu einer regelrechten Panik auszuwachsen, sodass sie nun so schnell sie konnte zum Weg zurückrannte, wobei sie aufpassen musste, um nicht im Schnee auszurutschen und hinzufallen. Als sie ihre Skier erreichte, fühlte sie wieder, wie die Erde rumpelte. Sie erstarrte und lauschte. Der Himmel wurde immer dunkler.
Donner, dachte sie, als sie in die Bindungen ihrer Skier stieg, wunderte sich aber, dass sie den Blitz übersehen hatte. Das ist bestimmt Donner.
Das rote Taschentuch flatterte vor ihr am Baum, als wieder eine Böe über die Schneelandschaft fegte. Elizabeth zog an dem Tuch und brach dabei den dürren Ast ab. Dann knäulte sie das Stück Stoff zusammen und warf es in einen Schneehaufen. Sie stapfte zurück zur Loipe und schob sich mit den Skistöcken so kraftvoll an, wie sie konnte. Mit eiligen Schritten machte sie sich auf den Rückweg zum Winterhaus. Und die ganze Zeit versuchte sie, eine Angst zu verdrängen, die sich beharrlich in ihren Geist bohrte: Was, wenn Gracella doch nicht tot ist?
Wieder rumpelte die Erde.
KAPITEL 2
VOLLER ELAN NACH HAUSE
Elizabeth hatte nur einen Gedanken, während sie sich so schnell wie möglich von der Mine und dem roten Taschentuch entfernte: Sie musste Norbridge von ihrer Entdeckung erzählen. Sie fürchtete sich – sowohl vor dem, was sie gesehen, als auch vor dem, was sie gefühlt hatte. Seit den Weihnachtsferien wohnte sie nun im Winterhaus, und alles war wunderschön: Morgens freute sie sich auf ihre neue Schule, abends las sie, trank heiße Schokolade oder besuchte Freunde. Sie verbrachte viele Stunden allein in der riesigen Bibliothek des Hotels, und an den Wochenenden ging sie Skifahren, Schlittschuhlaufen oder machte Spaziergänge um den gefrorenen Lake Luna. Und doch verspürte sie immer noch diese merkwürdige Verlockung, die ihr Gracella eingeimpft hatte, die sie aber nicht näher erklären konnte. Dieses Gefühl war beunruhigend.
Das alles ging ihr durch den Kopf, als eine Viertelstunde später wieder das Gefühl über sie kam. Sie blieb stehen. Sie war schnell gefahren, und es hatte angefangen zu schneien. Vor ihr gabelte sich die Loipe, und obwohl sie genau wusste, welcher Weg zum Winterhaus zurückführte,