David Copperfield. Charles Dickens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles Dickens
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961183173
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dann auch nicht mehr den über meinen Spielplatz emporragenden schlanken Kirchturm sehe und mir der ganze Himmel so leer vorkommt!

      Ich kenne jetzt genug von der Welt, um mich fast über nichts mehr zu verwundern oder zu erstaunen; aber es wundert mich dennoch einigermaßen, daß man mich so leichtfertig in einem solchen Alter verstieß. Ein Kind von vortrefflichen Fähigkeiten, mit großer Beobachtungsgabe, von leichten Begriffen, lernlustig, zart, körperlich und geistig leicht verletzbar, sieht es fast wunderbar aus, daß sich niemand meiner im geringsten annahm. Aber es erschien niemand, und ich wurde in meinem zehnten Jahre ein kleiner dienstwilliger Packesel bei Murdstone und Grimby.

      Das Geschäft von Murdstone und Grimby lag an der Themse unten bei Blackfriars. Umbauten haben seitdem die Stelle verändert, aber es war das letzte Haus in einer engen Straße, die sich hügelabwärts zu dem Fluß zog und am Ende ein paar Stufen hatte, wo die Leute die Boote zu besteigen pflegten. Es war ein baufälliges, altes Haus mit einem eigenen Badeplatz und einer Badestelle, die zur Flutzeit in das Wasser hineinragte und bei der Ebbe im Schlamm stand, im buchstäblichsten Sinn ein Rattennest. Die holzgetäfelten Stuben von hundertjährigem Schmutz und Rauch starrend, die morschen Dielen und Treppen, das Quieken und Rascheln der alten grauen Ratten unten in den Kellern, die Unsauberkeit und Verkommenheit des ganzen Gebäudes, sind nicht wie Vergangenes in meinem Gedächtnis, sondern wie eben Erlebtes. Sie stehen so deutlich vor mir, als ich sie in der unglückseligen Stunde sah, in der ich zuerst dorthin kam, mich mit zitternder Hand an Mr. Quinion haltend.

      Murdstone und Grimby hatten zahlreiche Verbindungen und mit vielen Leuten zu tun; ihr Hauptgeschäft aber war, gewisse Paketschiffe mit Wein und Branntwein zu versorgen. Ich weiß nicht mehr, wohin diese Schiffe hauptsächlich gingen, aber ich glaube, einige davon fuhren nach Ost- und Westindien, Eine große Menge leerer Flaschen häufte sich infolge dieses Handels alltäglich auf, und eine Anzahl Männer und Knaben waren beschäftigt, diese Flaschen zu untersuchen und zu sondern: gegen das Licht zu halten, die beschädigten beiseite zu legen und die übrigen auszuspülen. Wenn die leeren Flaschen aufgearbeitet waren, so galt es, die gefüllten mit Etiketten zu bekleben, zu korken, zu versiegeln oder in Kisten zu verpacken. Das war meine Arbeit, und ich war einer der damit beschäftigten Knaben.

      Außer mir waren drei oder vier andre Jungen auf gleiche Weise beschäftigt. Meine Arbeitsstelle wurde mir in einer Ecke des Warenlagers angewiesen, in der mich Mr. Quinion sehen konnte, wenn er sich auf die unterste Sprosse seines Arbeitsstuhles im Kontor stellte und durch ein neben seinem Pult befindliches Fenster spähte. An diese Stelle wurde der älteste der festangestellten Knaben beschieden, an dem ersten Morgen, an dem ich unter so glänzenden Bedingungen mein »selbstständiges« Leben begann, um mich in meine Arbeit einzuweihen. Er hieß Mick Walker und trug eine zerrissene Schürze und eine papierne Mütze. Sein Vater war Kahnführer, wie er mir erzählte, und beim Aufzuge des Lord-Mayors ginge er in einer schwarzen Sammetmütze mit. Dann berichtete er mir gleichfalls, daß unser Hauptgehilfe ein andrer Junge wäre, den er mir unter dem absonderlichen Namen Kartoffelkloß vorstellte. Indessen erfuhr ich, daß er nicht auf diesen Namen getauft war, sondern daß man ihm denselben nur im Geschäft beigelegt hatte, wegen seines blassen kartoffelartigen Aussehens. Der Vater vom Kartoffelkloß war Wasserträger, bekleidete aber daneben auch noch die Stelle eines Feuermanns bei einem der größeren Theater, in dem eine junge Verwandte von Kartoffelkloß, ich glaube es war seine kleine Schwester, Zwergrollen in den Pantomimen gab.

      Keine Worte können die geheime Seelenqual beschreiben, als ich zu dieser Gesellschaft herabsank, als ich diese täglichen Mitarbeiter mit den Genossen meiner glücklicheren Kinderjahre verglich, um gar nicht einmal Steerforth, Traddles oder meine übrigen Mitschüler anzuführen, als ich in meiner Brust die Hoffnung ganz geknickt fühlte, einst zu einem gelehrten, ausgezeichneten Manne heranzuwachsen. Ich kann nicht beschreiben, wie mich das Bewußtsein niederdrückte, daß mir jetzt gar keine Hoffnung mehr darauf bliebe, nicht beschreiben, wie ich mich meiner Stellung schämte, welche Qual es meiner jungen Seele verursachte, mir zu sagen, daß mit jedem Tage alles was ich gelernt und gedacht, woran ich mich erfreut, was meine Phantasie und mein Streben angeregt hatte, ganz allmählich entschwinden würde und mir unwiederbringlich verloren ginge. So oft sich Mick Walker im Laufe des Vormittags entfernte, mischte ich meine Tränen mit dem Wasser, in dem ich die Flaschen wusch, und schluchzte, als sollte mir die Brust zerspringen.

      Die Kontoruhr zeigte halb eins, und alles machte sich zum Mittagsessen bereit, als Mr. Quinion ans Fenster klopfte und mich herein rief. Ich gehorchte und fand drinnen einen wohlbeleibten Mann von mittleren Jahren, in einem braunen Überzieher und schwarzen engen Hosen und Schnallenschuhen, mit einem kahlen Kopf, der so glatt war wie ein Ei, und einem vollen, breiten Gesicht. Die Kleider waren schäbig, aber er hatte ungeheuere Hemdkragen, sog. Vatermörder. In der Hand hielt er einen ziemlichen Stock, der seinerzeit ein glänzendes Exemplar gewesen war und noch ein paar große, ehemals schwarze Quasten hatte. Vor der Brust hing ihm eine Lorgnette, wie ich später fand, nur zur Zierde, denn er benutzte sie selten und konnte nichts erkennen, wenn er hindurchsah.

      »Das ist er«, sagte Mr. Quinion und deutete auf mich.

      »Das ist Master Copperfield?« sagte der Unbekannte mit einer gewissen affektierten Herablassung in seiner Stimme und in seinem Benehmen, die einen großen Eindruck auf mich machte. »Ich hoffe, Sie befinden sich wohl, Sir.«

      Ich sagte: Ja, und hoffte das gleiche von ihm. Der Himmel weiß es, es war mir ziemlich schlimm zumute; aber es lag nicht in meiner Art, viel zu klagen, und so sagte ich, ich befände mich »ganz wohl« und hoffe von ihm das gleiche.

      »Ich befinde mich ganz wohl, Gott sei Dank!« sagte der Unbekannte. »Ich habe einen Brief von Mr. Murdstone empfangen, in dem er mich ersucht, in einem Zimmer in dem hintern Teile meines Hauses, das jetzt unvermietet ist und – und –« platzte der Fremde in einem Anfall von Vertraulichkeit mit einem Lächeln heraus, »als Schlafstube vermietet werden soll, den jugendlichen Anfänger aufzunehmen, den ich jetzt das Vergnügen habe, zu –« hier brach der Unbekannte ab, machte eine theatralische Handbewegung und zog das Kinn in den Hemdkragen zurück.

      »Das ist Mr. Micawber«, sagte Mr. Quinion zu mir.

      »Hm!« sagte der Fremde. »Das ist mein Name.«

      »Mr. Micawber«, sagte Mr. Quinion, »ist mit Mr. Murdstone bekannt. Er sammelt Aufträge für uns, wenn er sie bekommen kann. Mr. Murdstone hat an ihn wegen deiner Wohnung geschrieben; er wird dich als Mieter zu sich nehmen.«

      »Meine Adresse«, sagte Mr. Micawber, »ist Windsor-Terrasse City Road. Ich – kurz,« sagte Mr. Micawber und fiel aus derselben vornehmtuenden Redeweise plötzlich wieder in den vertraulichen Ton – »kurz, ich wohne dort.«

      Ich machte eine Verbeugung.

      »In der Voraussetzung,« sagte Mr. Micawber, »daß Ihre Exkursionen in dieser Metropole bisher nicht sehr ausgedehnt gewesen sein können, und daß es Ihnen einigermaßen schwerfallen dürfte, die Mysterien des modernen Babylon in der Richtung des City Road zu durchdringen – kurz,« sagte Mr. Micawber wieder mit plötzlicher Vertraulichkeit, »daß Sie sich verlaufen könnten, werde ich so frei sein, Sie diesen Abend abzuholen, um Sie in die Kenntnis des nächsten Weges zu meinem Domizil einzuweihen.«

      Ich dankte ihm von ganzem Herzen, denn es war freundlich von ihm, diese Mühe freiwillig zu übernehmen.

      »Zu welcher Stunde, Mr. Micawber, soll ich –«

      »Gegen acht«, sagte Quinion.

      »Also gegen acht«, sagte Mr. Micawber. »Ich erlaube mir, Ihnen einen guten Morgen zu wünschen, Mr. Quinion. Ich will nicht länger stören.«

      Er setzte seinen Hut auf und ging hinaus, den Stock unter dem Arme, hochaufgerichtet und ein Liedchen summend, als er das Kontor hinter sich hatte.

      Mr. Quinion