So hatte er sich länger als ein Jahr umhergetrieben, ohne daß man wußte wie, als ich ihn auf einem der Theater an der Surreyseite13 des Flusses, wo ich gerade ein kurzes Engagement hatte, plötzlich wieder zu Gesicht bekam. Er war mir auf einige Zeit aus den Augen gekommen, denn ich hatte das Land durchreist, während er sich in den Winkeln Londons umhertrieb. Da klopfte er mir eines Abends auf die Schulter, als ich eben im Begriffe war, das Schauspielhaus zu verlassen. Nie werde ich den erschreckenden Anblick vergessen, der sich meinen Augen darbot, als ich mich umwandte. Er war in die Tracht seines Handwerks gekleidet, und stand in der ganzen Abgeschmacktheit eines Hanswurstanzuges vor mir. Die Gespenster im Totentanze, die fürchterlichsten Gestalten, die je der Pinsel des geschicktesten Malers auf die Leinwand zauberte, waren nicht halb so entsetzlich anzusehen. Sein aufgedunsener Leib und seine hageren Beine, deren Mißgestalt durch die Narrenkleidung erst recht hervorgehoben wurde – die gläsernen Augen, die gegen das hochaufgetragene Weiß, womit sein Gesicht beschmiert war, fürchterlich abstachen; der grotesk aufgeputzte, krampfhaft zitternde Kopf und die langen, mit Kreide bemalten, fleischlosen Hände – alles gab ihm ein gräßliches, unnatürliches Aussehen, von dem man sich kaum eine Vorstellung machen kann, und an das ich mich bis auf diesen Tag nur mit Schaudern erinnere. Seine Stimme war hohl und zitternd, als er mich beiseite nahm und mir in gebrochenen Worten ein Langes und Breites von Krankheit und Entbehrungen vorschwatzte, wobei er, wie gewöhnlich, mit der dringenden Bitte schloß, ihm eine Kleinigkeit vorzustrecken. Ich drückte ihm ein paar Schillinge in die Hand, und als ich mich umdrehte, hörte ich das schallende Gelächter, das durch sein Auftreten auf den Brettern hervorgerufen wurde.
Einige Tage darauf legte mir eines Abends ein Knabe einen schmutzigen Papierfetzen in die Hand, worauf mit Bleistift einige Worte gekritzelt waren, aus denen hervorging, daß der Mann gefährlich krank sei und mich ersuche, ihm nach der Vorstellung da und da – ich habe den Namen der Straße vergessen – nicht weit vom Schauspielhause, zu besuchen. Ich versprach zu kommen, sobald ich könnte, und kaum war der Vorhang gefallen, da trat ich meinen traurigen Weg an.
Es war spät, denn ich hatte im letzten Stück gespielt, und da es ein Benefiz gewesen, so hatte die Vorstellung ungewöhnlich lange gedauert. Es war eine finstere, traurige Nacht: ein naßkalter Wind trieb den Regen heftig gegen Fenster und Haustüren. Das Wasser hatte sich in den schmalen, wenig besuchten Gäßchen zu Sümpfen angesammelt, und da die Heftigkeit des Windes, die wenigen Lampen, die hin und wieder angebracht waren, ausgelöscht hatte, so war der Weg nicht nur sehr mühsam, sondern auch höchst unsicher. Doch hatte ich glücklicherweise den rechten Weg eingeschlagen und fand endlich nicht ohne Schwierigkeit das bezeichnete Haus – einen Kohlenschuppen mit einem Stockwerk darüber, in dessen Hinterzimmer der Mann lag, dem mein Besuch galt.
Ein kläglich aussehendes Weib, die Frau des Unglücklichen, empfing mich auf der Treppe, führte mich mit den Worten, er sei eben in eine Art Schlummer gefallen, leise ins Krankenzimmer und stellte mir einen Stuhl vor das Bett. Der Kranke hatte das Gesicht gegen die Wand gekehrt, und da er meinen Eintritt nicht gewahr wurde, so blieb mir Muße, das Zimmer zu betrachten, in dem ich mich befand.
Er lag in einem alten Bettgestelle, das den Tag über zurückgeschlagen werden konnte. Die zerlumpten Überreste eines buntscheckigen Vorhanges umschlossen den oberen Teil des Bettes, um den Wind abzuhalten, der das unbehagliche Gemach frei durchstrich, indem er durch die zahlreichen Spalten der Tür eindrang und die Lappen fortwährend hin und her bewegte. In einem rostigen, freistehenden Becken glimmte ein mattes Kohlenfeuer, und vor demselben stand ein alter, dreieckiger, schmutziger Tisch mit Arzneifläschchen, einem zerbrochenen Glas und einigen andern Gerätschaften. In einem Bette auf dem Boden schlief ein kleines Kind, und neben ihm auf dem Stuhle saß die Frau. Auf zwei Regalen an der Wand standen einige Schüsseln, Teller und Tassen, und unter ihnen hingen ein Paar Bühnenschuhe und zwei Rapiere. Außer einigen Bündeln alter Lumpen, die unordentlich in den Winkeln lagen, war sonst nichts im Zimmer zu erblicken.
Ich hatte Zeit gehabt, diese Einrichtung zu mustern und die schweren Atemzüge und fieberischen Zuckungen des Kranken zu beobachten, ehe er meiner gewahr wurde. Bei den unaufhörlichen Versuchen, seinen Kopf in eine gute Lage zu bringen, streckte er seine Hand aus dem Bett und bekam die meinige zu fassen. Er schrak empor und starrte mir ins Gesicht.
»Herr Hutley, John«, sagte sein Weib: »Herr Hutley, nach dem du diesen Abend geschickt hast, wie du weißt.«
»Ach!« rief der Kranke, mit seiner Hand über die Stirne fahrend: »Hutley – Hutley – laß mich sehen.« Er schien seine Gedanken auf einige Sekunden sammeln zu wollen, dann faßte er mich heftig beim Handgelenke und sagte: »Verlaß mich nicht – verlaß mich nicht, alter Freund. Sie will mich ermorden, ich weiß, sie will mich umbringen.«
»Ist er schon lange so?« fragte ich mit einem Blicke auf sein weinendes Weib.
»Seit gestern abend«, antwortete sie. »John, John, kennst du mich nicht?«
»Laß sie nicht her«, sagte der Mann mit einem Schauder, als sie sich über ihn hinbeugte. »Jage sie fort: ich kann sie nicht neben mir ertragen.« Er starrte sie wild und mit einem Blicke tödlicher Angst an, und flüsterte mir dann ins Ohr: »Ich schlug sie – ja, ich schlug sie gestern und schon manches Mal. Ich gab sie dem Hungertode preis und das Kind auch; und nun ich schwach und hilflos bin, will sie mich dafür ermorden: ich weiß es. Hättest du ihr Jammergeschrei gehört, wie ich, du wüßtest es auch. Halte sie fern.« Er ließ meine Hand los und sank erschöpft aufs Kissen.
Ich wußte nur zu wohl, was all das zu bedeuten hatte. Hätte ich einen Augenblick im Zweifel sein können, so würde mich ein Blick in das blasse Gesicht und auf die abgezehrte Gestalt des Weibes hinlänglich von der Sachlage unterrichtet haben. »Gehen Sie lieber beiseite«, sagte ich zu dem armen Geschöpf. »Sie können doch nichts für ihn tun. Vielleicht wird er ruhiger werden, wenn er Sie nicht mehr sieht.« Sie ging ihrem Manne aus dem Gesicht. Er öffnete nach wenigen Sekunden seine Augen und sah sich ängstlich um.
›Ist sie fort?‹ fragte er hastig.
›Ja, ja‹, antwortete ich: ›sie wird dir nichts zu Leide tun.‹
›Ich will dir was sagen, Jem,‹ versetzte der Kranke mit leiser Stimme, ›sie tut mir etwas zu Leide. Es liegt in ihren Augen etwas, was eine so fürchterliche Angst in mir hervorbringt und was mich wahnsinnig macht. Die ganze Nacht über waren ihre großen, starren Blicke und ihr bleiches Gesicht dicht vor mir: wohin ich mich wandte, wandten auch sie sich, und sooft ich aus dem Schlafe auffuhr, stand sie neben meinem Bette und stierte mich an.‹ Er zog mich näher zu sich, als er in einem tiefen, zitternden Tone flüsterte –* ›Jem, sie muß ein böser Geist sein – ein Teufel! Hu! ich weiß es, sie ist's. Wäre sie ein Weib, so müßte sie schon lange tot sein. Ein Weib kann nicht ertragen, was sie ertragen hat.‹
Ich schauderte bei dem Gedanken an die lange Reihe von Grausamkeiten und Mißhandlungen, die vorangegangen sein mußten, um bei einem solchen Menschen einen solchen Eindruck hervorzubringen. Ich wußte nichts zu erwidern: denn wer konnte dem Verworfenen, den ich vor mir hatte, Hoffnung oder Trost geben?
Ich saß über zwei Stunden bei ihm, während er, vor Schmerzen und Ungeduld ächzend, unaufhörlich seine Arme hin und her warf, und sich immer wieder von einer Seite auf die andere umwandte. Endlich verfiel er in eine Art von bewußtlosem Halbschlummer, in dein der Geist unruhig von Bild zu Bild, von Ort zu Ort wandert, ohne die leitende Hand der Vernunft und ohne die Fähigkeit, sich von einem unbeschreiblichen Gefühle vorhandenen Leidens loszumachen. Da ich aus seinen Delirien entnahm, daß dies bei ihm der Fall, und alle Wahrscheinlichkeit vorhanden war, das Fieber werde sich vorderhand nicht mehr steigern, so entfernte ich mich, indem ich dem bedauernswürdigen Weibe versprach, am nächsten Abende meinen Besuch zu wiederholen und nötigenfalls die Nacht über bei dem Kranken zu wachen.
Ich