Die Familiensaga der Pfäfflings. Agnes Sapper. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Agnes Sapper
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783955016395
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sie behorchte. Er schlang beide Arme um den Hals des Arztes und flüsterte ihm ganz leise zu: »Die rote Kugel hat das Elschen gegessen, ja, und darum ist sie krank.«

      Die Eltern hatten nicht verstanden, was Frieder leise gesagt hatte, und so sahen sie mit Staunen, dass der Doktor sich von der kleinen Kranken weg eifrig dem Frieder zuwandte und nun, wahrhaftig – sie hörten es ganz deutlich – fing auch der Doktor an, von den Kugeln zu sprechen, die Herr Pfäffling eben verwünscht hatte. Der Arzt nahm den Frieder, der ein wenig ängstlich nach dem Vater hinübersah, auf die Knie und redete sehr freundlich mit ihm, während die Eltern auf seine Worte lauschten. »Wie war das mit der Kugel, Frieder? Sage mir's nur noch einmal genau; weißt du, das muss ich alles erfahren, wenn ich deine Schwester gesund machen soll. Hast du es denn gesehen, dass sie die Kugel geschluckt hat? Nein? Aber erzählt hat sie dir's? Was hat sie denn erzählt?«

      »Nur, dass die rote Kugel hart schmeckt. Und das weiß man doch nicht, wie die rote Kugel schmeckt, wenn man sie nicht gegessen hat. Und die Kugel ist auch nicht mehr da, sieh nur her.« Und Frieder öffnete das Büchschen. »Fünf müssen es sein, und es sind doch nur vier.« Elschen fing ängstlich an zu weinen. »Jetzt weint sie,« sagte Frieder und schien selbst den Tränen nahe, »ich habe sie doch auch nicht verraten wollen.«

      »So etwas muss man verraten,« sagte der Arzt, und nun wandte er sich an die Eltern, die in große Aufregung versetzt waren durch Frieders Mitteilung. »Wenn es so ist, wie der Kleine sagt, dann kann dem Kind geholfen werden. Ich bin überzeugt, dass die Sache sich so verhält, denn nur durch so etwas lässt sich diese Krankheit erklären. Am besten ist es, ich bringe gleich heute nachmittag einen geschickten Chirurgen mit, vielleicht ist eine Operation vorzunehmen.« Frau Pfäffling erschrak darüber. »Unser Frieder ist so ein Dummerle,« sagte sie, »auf seine Reden hin kann man doch keine Operation vornehmen!«

      »Der scheint mir gar kein Dummerle zu sein,« sagte im Fortgehen der Arzt, »wer weiß, ob Sie ihm nicht das Leben Ihres Kindes verdanken.« Die Mutter aber traute der Sache noch nicht und sie fing an, nach der Kugel zu suchen, und rief alle Kinder zu Hilfe. In der ganzen Wohnung wurde aus allen Ecken vor gekehrt, der Vater setzte einen Finderlohn aus und in jedem Zimmer traf man eines der Kinder der Länge

      nach auf dem Boden liegend und unter die Möbel schlupfend, um zu suchen. Nur Frieder suchte nicht mit, er sah dem Treiben verwundert zu und sagte nur: »Ich habe schon lange gesucht, da ist unsere rote Kugel nie.« Am Nachmittag wurde die Kleine so krank und schwach, dass es aussah, als ob sie den Abend nicht mehr erleben könnte, und so eilte Herr Pfäffling fort und holte die beiden Ärzte zu Hilfe. Sie kamen, brachten eine Krankenschwester mit, gingen ins Krankenzimmer und schlossen die Türe ab – niemand, nicht einmal die Eltern durften mit ihnen hinein. Das war nun ein bange Stunde. Die ganze Familie war im Wohnzimmer beisammen, lauschte auf die Geräusche, die hie und da aus dem Krankenzimmer über den Vorplatz herübertönten, und wartete. Der Mutter Auge ruhte auf Frieder. Sollte wirklich gerade dieses Kind, das kleine, unbeachtete Dummerle, den wahren Grund der Krankheit gefunden haben? Er saß ganz ruhig mit seinem Büchschen in der Hand da, während Herr Pfäffling aufgeregt im Zimmer hin und her lief und das lange Warten kaum ertragen konnte.

      Endlich, endlich hörte man, dass die Türe des Schlafzimmers aufgeschlossen wurde, Herr Pfäffling eilte hinaus in den Vorplatz, die Mutter ihm nach. Da kamen schon die beiden Ärzte auf sie zu und der Hausarzt rief ihnen entgegen: »Nun, da hätten wir ja die verlorene Kugel wieder,« und er hielt hoch in der Hand, dass es alle sehen konnten, die rote Kugel! Der Mutter stürzten die Tränen aus den Augen. »Darf ich hinein?« fragte sie und war schon durch die Türe und bei dem kleinen Liebling, ehe sie Antwort bekommen hatte. Das Kind lag bleich in seinem Bettchen und erkannte die Mutter nicht, aber die Krankenschwester sagte zu der besorgten Mutter: »Seien Sie nur ganz getrost, es ist so gut gegangen, die Ärzte sind ganz zufrieden.«

      Leise, leise schlichen sich allmählich die Kinder herein, während draußen die Ärzte mit dem Vater sprachen. Die großen Brüder, die Zwillingsschwestern, jedes wollte das Elschen sehen. Da konnte der kleine Frieder nicht beikommen und das Schwesterchen nicht sehen. Er wollte hinausschlüpfen, aber die Herren standen unter der Türe. Der Arzt bemerkte ihn. »Das ist der Kleine,« sagte er zu dem Chirurgen, »ein kluges, aufmerksames Kind, dem verdankt die kleine Schwester gewissermaßen das Leben.« »Ja,« sagte Herr Pfäffling, »das kommt daher, dass er sein Schwesterchen so lieb hat, er ist sonst nicht der Klügste, da muss die Liebe den schlummernden Verstand geweckt haben.« Die Geschwister alle hörten das, sie wandten sich Frieder zu und sahen ihn staunend an. Dieser selbst beachtete das nicht, er hatte ein anderes Anliegen, und da er sah, dass die Arzte ihn freundlich anblickten, wagte er es vorzubringen. Er streckte das Büchslein hin, in dem die vier Kugeln waren, und sagte: »Da herein gehört die rote Kugel!«

      Das Elschen erholte sich so schnell, dass es schon nach einigen Tagen wieder ganz lustig und munter war, und Herr Pfäffling rüstete sich abermals zur Reise. Ohne Sorge konnte er sein Töchterchen verlassen, das noch im Bett lag, aber fröhlich mit Frieder plauderte. Die Mutter folgte dem Reisenden noch die Treppe hinunter, die Zwillingsschwestern begleiteten den Vater an die Bahn, die Brüder sollten ihn dafür bei der Heimkehr abholen. Als Frau Pfäffling allein die Treppe wieder herauf und ins Zimmer kam, sagte sie zu ihren drei Großen: »Gottlob, dass des Vaters Reise doch noch zustande gekommen ist,« und sie fing an, den Tisch abzuräumen, an dem der Vater noch eine kleine Mahlzeit eingenommen hatte.

      Nun kam auch Frieder, der bei dem Schwesterchen geblieben war, herein, nahm seine Ziehharmonika und spielte ein Lied. Aber mitten in der Melodie unterbrach er sich und fragte: »Wann reist denn der Vater fort?« Da sahen ihn alle an, lachten und fragten: »Hast du's nicht gemerkt, dass der Vater abgereist ist? Er hat sich doch von dir und Elschen auch verabschiedet. Bist du denn doch wieder unser Dummerle? Und der Vater hat erst gesagt, niemand darf dich mehr so heißen.«

      Da besann sich der Frieder eine Weile, nahm seine Melodie wieder auf, wo er sie unterbrochen hatte, und spielte sie zu Ende. Dann deutete er auf das Klavier und sagte langsam: »Weil doch da oben noch die Karte vom Fichtelgebirge liegt, kann doch der Vater nicht fort sein.« Was gab es für einen Aufruhr bei diesen ruhig gesprochenen Worten! Die Mutter, die Geschwister, alle waren in einem Augenblick am Klavier: richtig, da lag die Karte; wie war es möglich, dass der Vater die vergessen hatte! Dann ein Blick auf die große Wanduhr – reicht es noch, kann man noch vor Abgang des Zuges an die Bahn kommen, dem Vater die Karte bringen? »Es geht nicht mehr,« meint die Mutter. »Es geht, es geht,« meint einer der Jungen und nimmt schon die Karte, reißt die Mütze vom Nagel und hinaus zur Türe: »Ich kann schneller laufen,« »und ich länger,« ruft der Zweite und Dritte, und einer hinter dem andern hinaus, die Treppe hinunter, mit einem Gepolter, dass sogar die freundliche Hausfrau zu ihrem Mann sagte: »So ein Gepolter dürfen die Kinder nicht anfangen, es ist besser, wenn man es ihnen gleich das erste Mal verwehrt.« Der Hausherr meinte das auch und ging an die Türe, aber die drei waren zum Haus hinaus, schossen davon und man hörte nur noch, wie droben das Fenster aufgemacht wurde und Frau Pfäffling ihren Jungen nachrief: »Rennt nur, was ihr könnt, es kann noch reichen!« Aber die drei hörten schon nichts mehr und waren im Nu um die Ecke. »Es muss etwas Besonderes los sein,« sagte die Hausfrau zu ihrem Mann, »da kann man nicht zanken.«

      Der Musiklehrer Pfäffling war zeitig an die Bahn gegangen, er konnte sich in Ruhe einen guten Platz im Zug wählen, stieg ein und plauderte durchs offene Fenster mit seinen zwei Töchtern. Nun reichte er ihnen noch die Hand heraus zum Abschied: »Grüßt mir die Mutter noch einmal und das Elschen, und nun geht nicht so nahe an den Zug, er wird gleich abfahren, dass nicht noch ein Unglück geschieht –« »Und du wieder nicht reisen kannst,« sagte eine der Schwestern. »Ja, diesmal hat's schwer gelingen wollen, gottlob, dass ich so weit bin.« »Fertig!« rief der Zugführer, und der Bahnbeamte setzte eben das Pfeifchen an den Mund, um das Zeichen zur Abfahrt zu geben, da stürzte auf den Bahnsteig heraus ein Bub, atemlos, schweißtriefend, und ein zweiter hinter ihm drein, und riefen schon von der Ferne: »Vater, Vater!« Der dritte war nicht nachgekommen, der hatte unterwegs einen Schuh verloren. Der Zugführer empfand ein menschliches Rühren, er war doch auch Vater: wenn zwei Kinder so nach dem Vater riefen, durfte er wohl einige Sekunden zögern. Er nahm das Pfeifchen von den Lippen, alle Umstehenden sahen auf die heranstürmenden Jungen, auch Pfäffling erblickte sie, und wie der Blitz durchfuhr ihn