Am Torweg war auch eine Wohnung frei. Die Hausfrau hängte eben im Vorgärtchen Wäsche auf; als sie hörte, was Pfäfflings Begehr war, holte sie ihren großen Schlüsselbund und schickte sich an, mit ihm hinaufzusteigen in den vierten Stock. Herr Pfäffling dachte bei sich: »Eigentlich ist's ganz unnötig, dass ich die Wohnung ansehe, ich nehme sie ja doch, mag sie sein wie sie will, aber ob die Frau uns nimmt, das ist die Frage!« Er sagte aber nichts und ging voraus, die Treppe zum ersten Stock hinauf. Langsam folgte ihm die Hausfrau, die wohlbeleibt war und schwer atmete. Pfäffling wurde ein wenig ungeduldig, er war schon so lange unterwegs und ihm war es ganz gleichgültig, wie die Zimmer aussahen. Auf dem ersten Treppenabsatz musste die Frau ein wenig ausschnaufen. Jetzt konnte er sich nicht mehr zurückhalten. »Ich will Ihnen lieber gleich mitteilen, dass ich Musiklehrer bin,« sagte er, »wenn Sie also keinen wollen, dann verlieren wir weiter keine Zeit.«
Sie stutzte einen Augenblick, dann sagte sie gnädig: »Steigen Sie nur weiter hinauf.« Im Nu war Pfäffling die zweite Treppe droben, die Hausfrau keuchte nach. Auf dem zweiten Treppenabsatz wieder Pause zum Atemholen und Pfäffling: »Ich will Ihnen nur gleich sagen, dass wir sieben Kinder haben.«
»Um Himmels willen,« rief die Frau, »haben Sie denn für jedes Stockwerk so eine Hiobspost? Bis wir den vierten Stock hinaufkommen, spielen Sie die Regimentstrommel und haben noch ein Dutzend Buben in der Kost! Ich tu' aber nicht mehr mit!« Und die schwerfällige Frau machte Kehrt, hörte gar nicht mehr auf die guten Worte, die ihr Pfäffling gab, und brummte noch vor sich hin: »Gott bewahre mich vor so einer Gesellschaft!«
Unser Musiklehrer rannte zum Haus hinaus und spornstreichs heim – für heute hatte er's satt!
Als er bei Tisch erzählte, wie es ihm ergangen war, fühlten sich die Kinder ordentlich beschämt, dass die Eltern ihretwegen nirgends aufgenommen wurden, und nach Tisch, wo sie sonst alle im Hof herumtollten, standen sie ganz bescheiden in einem Eckchen zusammen und besprachen die Wohnungsnot. »Wir Großen können nichts dafür, dass wir so viele sind,« sagte der Älteste, »wir drei waren schon immer da.«
»Und wir zwei auch,« sagte eine der Zwillingsschwestern, »aber der Frieder und Elschen sind nachher dazugekommen.« »Ja, die sind schuld, dass wir so viele sind.«
»Ach, das Elschen macht ja nichts aus, das ist so klein und still, das bemerkt kein Hausherr. Aber der Frieder, ja, der Frieder mit seiner ewigen Ziehharmonika, wenn der nicht wäre, dann wären wir bloß sechs.« Sie sahen alle auf den Frieder, der stand da wie ein kleiner Sünder und fühlte sich schuld an der ganzen Wohnungsnot. Und als seine Geschwister längst schon die Sorge abgeschüttelt hatten und lustig im Hofe spielten, war er noch still und nachdenklich.
Frieder stand immer ein wenig allein unter den Geschwistern. Die drei großen Brüder sahen auf ihn herab und nannten ihn das Dummerle. Er war eigentlich nicht dumm, aber weil er immer Harmonika spielte, hörte und sah er manchmal nicht, was um ihn vorging, und stellte oft wunderliche Fragen. Die Zwillingsschwestern gingen immer miteinander und brauchten ihn nicht, so blieb nur das Elschen übrig, und mit dem konnte er noch nicht viel besprechen; aber er hatte es doch sehr lieb, schon weil es nicht auf ihn heruntersehen konnte, wie all die andern, sondern weil es sogar zu ihm hinaufblicken musste; er hatte es lieb, weil es nie Dummerle zu ihm sagte, denn es war noch kleiner und dummer als er.
Dies kleine Elschen wandte sich auch oft an ihn, denn Frieder hatte mehr Zeit und auch mehr Geduld als die größeren Geschwister, und wenn Elschen noch so oft des Tages eine ihrer fünf schönen Glaskugeln verlor, so suchte sie Frieder unverdrossen wieder zusammen. Die Kleine verstand noch nichts von der Wohnungsnot, aber Frieder war sehr davon bedrückt, und als er an diesem Nachmittag aus der Schule kam, fiel ihm ein, er wolle auch helfen Wohnung suchen. Sein Weg führte ihn durch die Kaiserstraße, das war die eleganteste Straße der Stadt. In dieser gab es ja prächtige Häuser, da mussten feine Wohnungen sein, wenn er nur so eine finden könnte!
Mit dem Schulranzen auf dem Rücken, in seinem verwaschenen, blau und weiß gestreiften Sommeranzug ging Frieder in eines der stattlichsten Häuser, die teppichbelegte Treppe hinauf und drückte auf die Klingel im ersten Stock. Er musste ein wenig warten, denn das Dienstmädchen war eben am Scheuern; sie musste erst ihre nasse Schürze ablegen, schnell eine weiße antun, rasch am Spiegel ihr Haar glatt streichen – so, nun war sie allerdings schön genug, um unserem Frieder aufzumachen. Der zog sein Mützchen ab und sagte: »Wir suchen eine Wohnung.« Er musste es noch zweimal sagen, denn das Mädchen meinte immer, es habe ihn falsch verstanden. Dann lachte sie und sagte: »Du kleiner Däumling, du willst eine Wohnung suchen? Geh, da würde ich doch noch zwanzig Jahre warten,« und damit ließ sie den kleinen Mann stehen und schloss die Türe. »Zwanzig Jahre können wir doch nicht warten,« dachte Frieder und ging eine Treppe höher. Dort öffnete ihm ein Junge, nur ein
paar Jahre älter wie er. Als dieser erfasst hatte, was Frieder wollte, führte er ihn in das Zimmer und rief einer Dame, die dasaß, zu: »Sieh doch, Mama, da ist so ein komischer, kleiner Junge, der will bei uns eine Wohnung suchen.«
Die Mama sah dem kleinen Eindringling ein wenig misstrauisch entgegen, sie fragte ihn, wem er gehöre. Der Musiklehrer Pfäffling hatte aber einen guten Namen und war der Dame nicht unbekannt. Sie fragte nun noch allerlei. Der Frieder antwortete, so gut er's verstand. Man konnte ihm wohl anmerken, wie ernst es ihm war mit der Wohnungsnot. Die Dame konnte ihm aber doch nicht helfen. »Liebes Kind,« sagte sie, »geh du lieber heim, dein Vater wird schon selbst eine Wohnung finden.« Der Frieder schüttelte traurig das Köpfchen. »Nein,« sagte er, »uns will niemand nehmen, weil wir sieben Kinder sind.«
»Das ist aber arg, Mama,« sagte der kleine Sohn des Hauses, »wenn sie keine Wohnung finden, dann müssen sie immer auf der Straße bleiben.«
»Bewahre,« entgegnete die Mama, »sie kommen schon unter; sieben Kinder sind nicht so schlimm, da drüben wohnt eine Familie mit acht Kindern, und es gibt auch solche mit zehn!« Da lauschte der Frieder, das war ihm eine gute, neue Botschaft! Jetzt war er beruhigt; das musste er gleich daheim erzählen, die wussten das gewiss nicht. Er gab das Wohnungsuchen auf und ging heim.
Als Frau Pfäffling im Kreis der Ihrigen erzählte, dass sie an diesem Nachmittag vergeblich in vielen Häusern gewesen sei, sagte Frieder ganz ernsthaft: »Ich habe auch Wohnungen gesucht und keine gefunden.« »Du hast gesucht? ja wo denn? wie denn?« fragten alle durcheinander, und während er erzählte, wurde er von den Großen unbarmherzig ausgelacht und von den Eltern gezankt, dass er allein in fremde Häuser gegangen war. Frieder ließ das Köpfchen hängen. Niemand bemerkte, dass Tränen in seinen Augen standen, nur die kleine Else sah es, weil sie gerade an ihn herankam und zu ihm aufsah, und sie streichelte den Bruder. Sie verstand auch noch nicht, warum die andern lachten, und das tat dem Frieder wohl, in ihren Augen war er doch kein Dummerle!
Frau Pfäffling hatte aber doch eine Wohnung ausfindig gemacht. Freilich war sie auch teurer als die seitherige, gerade etwa um so viel teurer, als Herrn Pfäfflings Reise gekostet hätte, aber es waren doch so viele Zimmer darin, dass die große Familie gut Platz hatte. Frau Pfäffling berichtete genau über die innere Einteilung. »Du hast ja noch gar nicht gesagt, in welcher Straße sie liegt, das möchte ich doch vor allem wissen,« sagte Herr Pfäffling. Da kam es etwas zögernd heraus: »Sie liegt in der Hintern Katzengasse Nr. 13.«
»In der Hintern Katzengasse? Die kennt man ja nicht einmal dem Namen nach. Wollen wir doch sehen, wo die liegt.« Auf demselben Tisch, wo kürzlich die Karte vom Fichtelgebirge aufgelegen war, wurde nun der Stadtplan ausgebreitet, und wieder steckten sich alle Köpfe zusammen, bis die Hintere Katzengasse gefunden wurde. Sie führte von der Vorderen Katzengasse nach der alten Trödlergasse.
»Eine feine Lage ist's nicht,« sagte Pfäffling.
»Nein, aber dort nimmt man uns doch auf. Die Kaiserstraße wäre feiner gewesen, wo unser Dummerle gesucht hat.«
»Wem gehört denn das Haus?«
»Einem Seifensieder.«
»Riecht's da nicht den ganzen Tag nach Seifenbrei?«
»Es