Auf Frieders hohem Brettersitz saßen die drei Brüder in der Stille der Nacht und sahen erwartungsvoll hinauf nach dem Sternenhimmel. In wunderbarer Klarheit wölbte er sich über ihnen. Das war ein Schimmern und Leuchten aus unendlichen Fernen! Keiner von ihnen hatte es je so schön gesehen. »Wenn auch weiter gar nichts zu sehen wäre,« sagte Karl, »so würde mich's doch nicht reuen, dass ich aufgestanden bin.« »Mich reut's auch nicht,« sagte Wilhelm, »obwohl ich's gar nicht glaube, dass einer von den Sternen auf einmal anfängt zu fliegen. Die stehen da droben alle so fest!«
»Seht, seht da!« rief in diesem Augenblick Otto und deutete nach Osten. Ein heller, weißglänzender Stern schoß am Firmament in weitem Bogen dahin und war dann plötzlich verschwunden. In einem Nu hatte er die riesige Bahn durchflogen, wie weit wohl? Ja, das mochte wohl eine Strecke gewesen sein, größer als das ganze Deutsche Reich. Staunend sahen die Kinder hinauf: da – schon wieder eine Sternschnuppe, größer als die vorige, in gelbem Licht strahlend, und nach wenigen Minuten wieder eine. Die meisten kamen aus derselben Himmelsgegend und flogen in gleicher Richtung. Die Kinder fingen an zu zählen, aber als die Zeit vorrückte und es auf den Turmuhren 2 Uhr geschlagen hatte, wurden die Sternschnuppen immer häufiger, oft waren zwei oder drei zugleich sichtbar, es war über alles Erwarten schön. Allmählich schoben sich aber von Westen herauf immer größere Wolkenmassen und fingen an, die Sterne zu verdunkeln. Endlich kam das Gewölk bis an die Himmelsgegend, von der die meisten Sternschnuppen ausgingen, und wie wenn den staunenden Blicken nicht länger das schöne Schauspiel vergönnt sein sollte, zog sich eine dichte Decke über die ganze Herrlichkeit.
Noch standen die Kinder auf ihrem Posten und hofften, die Wolken würden sich wieder verteilen. Da und dort schimmerte zwischendurch ein einzelner Stern. »Sie sind alle noch da und fliegen herum,« sagte Otto, »nur die Wolken sind davor.« Nun wurde es vollständig Nacht, und die Brüder empfanden auf einmal, dass es kalt war und sie selbst müd und schläfrig. Jetzt ins warme Bett zu schlüpfen, musste köstlich sein! Also kletterten sie herunter und gingen in der Stockfinsternis dem Haus zu.
»Hast du doch den Schlüssel, Karl?« »Jawohl, da ist er.«
»Das wäre kein Spaß, wenn du den verloren hättest und wir müssten da draußen bleiben in der Kälte!«
Sie kamen nun nahe an das Haus, schlichen sich leise und schweigend an die Türe. Karl schloss auf und klinkte an der Schnalle, aber die von innen verriegelte Türe ging nicht auf. »Was ist denn das?« flüsterte Karl, drehte den Schlüssel noch einmal im Schloss auf und zu und klinkte und drückte gegen die Türe, aber die gab nicht nach.
»Lass doch mich probieren,« sagte Wilhelm leise, »du hast wohl falsch herumgedreht,« er brachte ebenso wenig zustande und Otto nicht mehr.
»Lasst doch, ihr verdreht das Schloss noch,« sagte Karl, »ihr seht doch, es geht nicht. Was kann denn aber schuld sein? Das Schloss ist doch in Ordnung, was hält die Türe zu?«
In leisem Flüsterton gingen nun die Vermutungen hin und her. »Jemand hat etwas vor die Türe gestellt, damit wir nicht hereinkönnen.« »Oder den Riegel vorgeschoben.«
»Ja, ja, den Riegel. Natürlich, der Riegel ist vorgeschoben! Wer hat das getan? Wer hat uns hinausgeriegelt?« Da meldete sich das Gewissen: »Vielleicht der Vater, weil wir nichts gesagt haben!«
»Aber er hat es doch erlaubt!«
»Ich weiß nicht mehr so recht, hat er's wirklich erlaubt?«
»Wir hätten vielleicht um den Hausschlüssel bitten sollen.«
»So wird's sein: Der Vater hat den Wecker gehört, hat gemerkt, dass wir ungefragt fortgehen und hat hinter uns zugeriegelt. Es muss ja so sein, wer hätte es sonst tun sollen?«
Nach einigem Nachdenken über diese traurige Lage sagte Karl: »Klingeln dürfen wir nicht, gehen wir wieder hinter auf den Platz, wickeln uns in den warmen Schal und legen uns auf ein Brett, da kann man schon schlafen.«
So schlichen sie noch einmal wie drei kleine Sünder ums Haus herum und suchten sich ein Lager zu machen auf den Brettern. Wenn es nur nicht so stockfinster gewesen wäre und die Bretter so nass und so hart und so unbequem und wenn es nur vor allem nicht so bitter kalt gewesen wäre! Karl blieb nur einen Augenblick liegen, dann sprang er auf: »Der Schal reicht doch nicht für drei, ihr könnt ihn haben und ich laufe lieber hin und her, wie wenn ich Wache hätte. Wer weiß, in drei Jahren muss ich's ganz im Ernst tun.« Er wickelte die Brüder in das Tuch, wanderte stramm hin und her, war ganz wohlgemut und dachte an das Soldatenleben. Aber nach einer kleinen Weile hörte er einen seltsamen Ton. Was war denn das? Er kam näher zu den Brüdern her – wahrhaftig, Otto schluchzte und weinte ganz laut. Er hatte ein wenig geschlafen und war nun aufgewacht und klagte, es tue ihm alles weh. Auch Wilhelm erhob sich wieder aus seiner unbequemen Lage und schien ebenso nahe am Weinen. Da fühlte sich Karl als Ältester verantwortlich: »Die müssen ins Bett,« sagte er sich, »sonst werden sie krank. Kommt, wir wollen sehen, ob wir nicht die Marianne wach rufen können, damit sie uns ausriegelt.« Da waren die Verschlafenen gleich wieder munter. Sie gingen nach der Seite des Hauses, wo das Schlafzimmer der Mädchen lag, und nun galt es so laut zu rufen, dass diese aufwachten, und zugleich so leise, dass Hartwigs, die unter ihnen schliefen, nichts hörten. »Marianne, Marianne,« klang es zuerst leise und allmählich lauter. Es ging aber umgekehrt, als es hätte gehen sollen, die Schwestern hörten nichts und die Hausleute wachten auf.
Die Hausfrau lächelte ganz befriedigt. »Aha,« sagte sie sich, »nun möchte man wieder herein.« Sie erzählte ihrem Mann von der verriegelten Türe. Er machte das Fenster auf: »Wer ist da?« rief er. Die Brüder erschraken, als sie des Hausherrn Stimme hörten. Keiner rührte sich, keiner antwortete. Der Hausherr starrte in die Dunkelheit hinaus, lauschte – sah nichts, hörte nichts und schloss das Fenster. Eine gute Weile blieben unsere drei Ausgestoßenen wie angewurzelt stehen. »Wir wollen etwas an das Fenster hinaufwerfen,« schlug Karl vor, und sie tasteten nach Steinchen und warfen. Aber sie trafen ganz schlecht in der Dunkelheit, fingen wieder an »Marianne« zu rufen und fanden es unbegreiflich, dass die Schwestern so fest schliefen.
»Ich habe ganz deutlich die Stimme von einem Pfäffling erkannt,« sagte die Hausfrau zu ihrem Mann, »es wird doch keines von den Kindern draußen sein in der kalten Nacht? Lass mich mal rufen, mich kennen sie besser!« und leise öffnete sie das Fenster und rief freundlich: »Seid Ihr es, Kinder?« Auf diesen Lockton gingen sie. »Ja wir sind's,« riefen sie dreistimmig, näherten sich dem Fenster und sagten: »Wir wollten nur Marianne rufen, damit sie uns hereinlässt.« Die Hausfrau erschrak. So hatte sie die Kinder hinausgeschlossen. An die Bösen hatte sie gedacht, denen es recht geschah, an die Guten, die klingeln würden, aber nicht an die Bescheidenen, die nicht klingeln mochten.
»Ich mache euch gleich auf, Kinder,« sagte sie, »wie kommt ihr nur hinaus?«
»Wir haben den Leonidenschwarm angesehen.« »Aber Kinder!« rief sie vorwurfsvoll und schloss das Fenster.
»Was haben sie angesehen? Den Leonidenschwarm?« fragte der Hausherr, »was ist denn das wieder? Eine Studentenverbindung? Ein Verein? Und da schwärmen die Buben hinaus ohne ihren Vater und bleiben bis gegen Morgen?«
Herr Hartwig war sehr aufgebracht. »Bleibe du nur da,« sagte er zu seiner Frau, »ich will selbst hinaus, und ihnen sagen, was nötig ist. Wenn man nicht mehr seine Nachtruhe hat, nicht weiß, ob das Haus nachts geschlossen bleibt, dann hört ja alles auf. Für solche Mietleute bedanke ich mich!«
Mittlerweile hatte der Hausherr sich angekleidet, kam heraus und schob den Riegel der Haustüre zurück. Die drei frierenden, übernächtigen Kameraden sahen nicht erfreulich aus und Schreiner Hartwig maß sie mit so verächtlichem Blick, dass ihnen sogar die gewohnte Entschuldigung entfiel, sie standen vor ihm wie das böse Gewissen. Er schob sie von der Türe weg und den Riegel mit Gewalt wieder vor und dann sprach er ruhig und deutlich den einen Satz: »Sagt eurem Vater, auf ersten Januar sei ihm die Wohnung gekündigt.«
Ach, auf den nassen, harten Brettern draußen in der Winterkälte war es den drei Brüdern nicht so elend zumute gewesen als in den eigenen Betten, in die sie ganz vernichtet