Herrn Pfäffling war zumute, wie wenn man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hätte, als er las, dass die ganze Musikschule, die er dirigieren wollte, wie ein Luftschloss zusammenbrach.
O, diese traurige Tischgesellschaft! Wie bestürzt sahen die Eltern aus, wie starrten die Buben das unheilvolle Telegramm an, wie flossen den Mädchen die Tränen aus den Augen, wie schaute Elschen so ratlos von einem zum andern, weil sie gar nichts von dem allen verstand!
Frieder, der neben der Mutter saß, wandte sich halblaut an sie: »Es wäre viel freundlicher gewesen, wenn sie das mit der Musikschule schon vorher ausgemacht hätten, und das mit dem Vater erst nachher.«
»O Frieder,« rief der Vater und fuhr so lebhaft vom Stuhl auf, dass alle erschraken, »wenn die Marstadter nur so klug wären wie du, aber die sind so – ich will gar nicht sagen wie, das kann man überhaupt gar nicht sagen, dafür gibt es keinen Ausdruck!«
Frau Pfäffling nahm das Telegramm noch einmal zur Hand: »Ein paar Jahre wollen sie warten,« sagte sie, »vielleicht nur zwei Jahre, dann wäre es ja nicht so sehr ferne gerückt!«
»Es können auch fünf daraus werden und zehn,« entgegnete Herr Pfäffling, »inzwischen kommen die, die jetzt noch zu jung waren, ins richtige Alter und ich komme darüber hinaus. Nein, nein, da ist nichts mehr zu hoffen, Direktor bin ich gewesen.«
Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und man hörte ihn über den Gang in das Musikzimmer gehen. Die Kinder aßen, was auf ihren Tellern fast erkaltet war. »Ich wollte, Herr Kraußold wäre gar nie in unser Haus gekommen!« sagte Anne. Da stimmten alle ein und der ganze Zorn entlud sich über ihn, bis die Mutter wehrte: »Herr Kraußold hat es nur gut gemeint. Ihr Kinder habt überdies allen Grund, froh zu sein, dass wir hier bleiben. Ihr bekommt es nirgends mehr so gut wie hier außen in der Frühlingsstraße. Für euch wäre es kein Gewinn gewesen.«
»Aber für den Vater und für dich,« sagte Karl, und er dachte an den schönen Abend, an dem die Eltern ihm die frohe Zukunftsaussicht anvertraut hatten. »Ja,« sagte die Mutter, »aber der Vater und ich kommen darüber weg. In der ersten Viertelstunde ist man wohl betroffen, aber dann stemmt man sich gegen das Ungemach und sagt sich: dies gehört auch zu den Dingen, die uns zum besten dienen müssen, wie alles, was Gott schickt, und dann besinnt man sich: wie muss ich's anpacken, damit es mir zum besten dient?« Die Mutter versank in Gedanken.
»Seid ihr satt, Kinder?« fragte sie nach einer kleinen Weile. »Dann deckt den Tisch ab, ich will ein wenig zum Vater hinübergehen. Nehmt auch die Rose mit hinaus, die Blätter fallen ab.«
Im Eckzimmer wanderte Herr Pfäffling auf und ab und wartete auf seine Frau, denn er wusste ganz gewiss, dass sie zu ihm kommen würde. Sie hatten schon manches Schwere miteinander getragen, und nun musste auch diese Enttäuschung gemeinsam durchgekämpft werden.
Als Frau Pfäffling eintrat, hatte ihr Mann ein Blatt Papier in der Hand und reichte es ihr mit schmerzlichem Lächeln: »Da sieh, gestern abend war ich so zuversichtlich, da habe ich für dich ein kleines Lied komponiert, das wollte ich dir heute abend mit der Guitarre singen. Die Kinder hätten im Chor den Schlussreim mitsingen dürfen, auf den jeder Vers ausgeht:
»'Drum rufen wir mit frohem Sinn:
Es lebe die Direktorin!'
»Nun muss es heißen:
»'Schlag dir die Ehre aus dem Sinn
Du wirst niemals Direktorin.'«
»Nein, nein,« wehrte Frau Pfäffling, »du musst es anders umändern, es muss ausgedrückt sein, dass wir trotz allem einen frohen Sinn behalten.«
»Für den Gedanken finde ich jetzt noch keinen Reim,« sagte er trübselig, »ich brauche auch keinen, mit dem Lied kannst du Feuer machen.«
Sie sprachen noch lange von der großen Enttäuschung, und dann kamen sie auf den beginnenden Winter zu sprechen, für den noch nicht so viel Stunden angesagt waren als nötig erschien, um gut durchzukommen. So erschien ihnen die Zukunft grau wie der heutige Novemberhimmel.
Inzwischen war wohl eine halbe Stunde vergangen. Da fragte vor der Türe eine Kinderstimme: »Dürfen wir herein?«
»Was wollt ihr denn?« rief dagegen, wenig ermutigend, der Vater. Unter der Türe erschienen die drei Schwestern; voran die Kleine mit strahlendem Ausdruck, dann Marie und Anne. Sie trugen zwei Tassen, Kaffee- und Milchkanne und stellten das alles vorsichtig auf den Tisch. Die zwei Großen sahen zaghaft aus, wussten nicht recht, wie die Überraschung wohl aufgenommen würde. »Was fällt euch denn ein, Kinder?« fragte die Mutter. Marie antwortete, aber ihre Stimme zitterte und die Tränen wollten kommen: »Wir haben auf heute einen Kaffee gemacht, weil ihr fast nichts gegessen habt!« und Anne flüsterte der Mutter zu: »Von unserem Geld, du darfst nicht zanken.« Schnell gingen sie wieder hinaus und hörten eben unter der Türe, wie die Mutter freundlich sagte: »Dann kann ich freilich nicht zanken,« so war also die Überraschung gut aufgenommen worden.
Solch ein Kaffee nach Tisch war eine Liebhaberei von Herrn Pfäffling, die er sich nur an Festtagen gestattete. So kam es ihm auch wunderlich vor, sich gerade heute mit seiner Frau an den Kaffeetisch zu setzen, er war sich keiner festtäglichen Stimmung bewusst! Aber man musste es doch schon den Kindern zuliebe tun, sicher würde Marie, das Hausmütterchen, gleich nachher visitieren, ob auch die Kannen geleert seien. Diesem festtäglichen Kaffee gegenüber wich die graue Novemberstimmung unwillkürlich, und bei der zweiten Tasse sagte unser Musiklehrer zu seiner Frau: »Man müsste eben den Schlussreim so verändern:
»'Direktor her, Direktor hin,
Wir haben dennoch frohen Sinn.'«
Der letzte Schluck Kaffee war noch nicht genommen, da klingelte es. Frau Pfäffling horchte und rief erschrocken: »Kann das Fräulein Vernagelding sein?«
»Donnerstag? Freilich, das ist ihr Tag. O, die unglückselige Stunde, die hatte ich total vergessen, muss die auch gerade heute sein! Wenn ich die jetzt vertrage, Cäcilie, dann bewundere ich mich selber. Du glaubst nicht, wie unmusikalisch das Fräulein ist!« Frau Pfäffling hatte das Kaffeegeschirr rasch auf das Brett gestellt und war längst damit verschwunden, bis Fräulein Vernagelding im Vorplatz am Kleiderhalter und Spiegel Toilette gemacht und ihre niedlichen Löckchen zurecht gesteckt hatte. Herr Pfäffling nahm sich gewaltig zusammen, als diese unbegabteste aller Schülerinnen sich neben ihn ans Klavier setzte und mit holdem Lächeln sagte: »Heute dürfen Sie es nicht so streng mit mir nehmen, Herr Pfäffling, ich konnte nicht so viel üben, denken Sie, ich war gestern auf meinem ersten Ball. Es war ganz reizend. Ich war in Rosa.«
»Freut mich, freut mich,« sagte Herr Pfäffling und trippelte bereits etwas nervös mit seinem rechten Fuß. »Aber jetzt wollen wir gar nicht mehr an den Ball denken, sondern bloß an unsere Tonleiter. G-dur. Nicht immer wieder f nehmen statt fis, das lautet gräulich für mich. Schon wieder f! Wieder f! Aber Sie nehmen ja jedes Mal f, Sie denken wieder an den gestrigen Ball!« »Nein, Herr Pfäffling,« entgegnete sie und sah ihn strahlend an, »ich denke ja an den morgigen Ball, was sagen Sie dazu, dass ich morgen schon wieder tanze! Diesmal in Meergrün. Ist das nicht süß?« Herr Pfäffling sprang vom Stuhl auf. »Süß, ja süß!« wiederholte er, »aber zwischen zwei Bällen Sie mit der G-dur Tonleiter zu plagen, das wäre grausam, vielleicht auch gegen mich. Da gehen Sie lieber heim für heute.«
»Ja, darf ich?« sagte sie aufstehend, und die hoffnungsvolle Schülerin empfahl sich mit dankbarem Lächeln und Knix.
Als Frau Pfäffling durch den Vorplatz ging, sah sie mit Staunen, dass Fräulein Vernagelding schon wieder am Spiegel stand. Sie hatte diesmal entschieden mehr Zeit am Spiegel als am Klavier verbracht.
Herr Pfäffling erzählte, dass ihm die Geduld ausgegangen sei, er glaube aber nicht, dass es das Fräulein übel genommen habe.
»Aber Frau Privatiere Vernagelding wird um so mehr gekränkt sein,« sagte Frau Pfäffling