Erscheinen dem heutigen Leser die in Oktaven verfassten (insgesamt 38736 Verse) 46 Gesänge zuweilen als schwere Kost, so war das Versepos des Ariosto tatsächlich das meist gelesene Werk der italienischen Renaissance. Zahlreich sind deshalb die Relektüren und Kommentare des Werkes, zu denen auch die Verse der neapolitanischen Dichterin Laura Terracina gehören. Mit ihren Discorsi sopra le prime stanze de‘ canti d’Orlando furioso (1549)2 tritt sie in einen kritischen Dialog mit dem berühmten Zeitgenossen, indem sie insbesondere die gesellschaftskritische Komponente der dritten Fassung des Ritterepos akzentuiert und in die Tradition des europäischen Geschlechterstreites einschreibt und mit 29 Neuauflagen bis in das Jahr 1698 selbst zu einem Besteller wird.
Laura Terracina (1519–1577?)
Trotz der beträchtlichen literarischen Produktivität der Laura Terracina,1 verfügen wir nur über wenige verlässliche Informationen zu ihrer Biographie.2 Im Jahre 1519 erblickte Laura Bacio Terracina in Neapel das Licht der Welt. Die ursprünglich aus Brescia stammende Familie hatte sich bereits im 13. Jahrhundert vor den Repressalien der katholischen Kirche nach Neapel geflüchtet, wo sie sich der Herrschaft der Familie der Anjou gegenüber treu erwies. Wenig ist über die Jugend bzw. die Ausbildung der Dichterin bekannt. Sicher ist allerdings, dass L. Terracina von 1545–1547, unter dem Akademienamen Febea, Mitglied der Accademia degli Incogniti war, welche unter der Protektion Maria d’Aragonas stand und wie die anderen beiden neapolitanischen Akademien, die Accademia die Sereni sowie die Accademia degli Ardenti, 1547 durch den Viceré di Toledo aufgelöst wurde. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Neapel von 1501–1647 unter spanischer Herrschaft stand, wobei Karl der V. in Neapel durch den Viceré von Toledo vertreten wurde. Im Ambiente der Accademia degli Incogniti, zu deren Mitgliedern u.a. Baldassare Maracco, Giovan Francesco Brancaleone, Angelo Di Costanzo, Marco Antonio Epicuro, Antonio Minturno, Luigi Tansillo zählten und die durch Mäzenaten wie Isabella Villamarina, Prinzessin von Salerno oder den Marchese Ferrante Carafa Unterstützung erfuhren, entstand das erste Werk der Terracina, die Prime Rime, welche mit Hilfe des Buchhändlers und Verlegers Marcantonio Passero und Ludovico Domenichi 1548 bei dem namhaften venezianischen Verleger Giolito veröffentlicht wurden. 1549 erschienen die Seconde Rime, die einem deutschen Akademiemitglied, Leonardo Khurz gewidmet sind. Hinter den Terze Rime verbergen sich, wie bereits erwähnt, die Discorsi sopra le prime stanze de‘ canti d’Orlando, das Erfolgswerk der Autorin. 1550, 1552, 1558 erschienen sukzessive der vierte, fünfte und sechste Band der Reime. Die 1561 veröffentlichten siebten Reime sind den Witwen Neapels gewidmet, während die achten Reime von 1562 den ersten sowie den zweiten Teil der Discorsi über den Orlando furioso beinhalten, den Laura Terracina auf Betreiben ihres Ehemannes und Verlegers Valvassori verfasste.3 Die 9. Reime schließlich, die vornehmlich spirituellen und enkomiastischen Charakters sind, bleiben unveröffentlicht.4
Was das Privatleben der Autorin betrifft, so haben einige Literaturwissenschaftler versucht, etwaige Liebschaften aus ihren Versen zu rekonstruieren. So geht Mutini von Beziehungen zu Giovan Alfonso Mantegna di Maida und und Diomede Carafa5 aus, während Montella den Adressaten des ersten Teils der Discorsi, Giovanni Vincenzo Belprato, für einen ihrer Liebhaber hält.6 Wahrscheinlich heiratet die Dichterin zwischen 1560 und 1561,7 im Alter von ca. 40 Jahren, Polidoro Terracina. Ihr Ehemann wird auch im Widmungsbrief der Secondo parte del Discorso von 1567 erwähnt, wenn die Autorin angibt, von ihrem Ehemann und dem Verleger Luigi Valvassori zu dieser Fortsetzung gedrängt worden zu sein.8
1577 signierte Laura Terracina den Widmungsbrief ihres letzten Werkes an den Kardinal Ferrante de‘ Medici. Ihr Todesdatum ist ungewiss und wird im Hinblick auf dieses ‚letzte Lebenszeichen‘ auf eben dieses Jahr 1577 festgesetzt.
Discorso sopra il Principio di tutti i canti d’Orlando Furioso: Laura Terracina im Dialog mit Ariosto
1549 erscheint in Venedig der Discorso sopra il Principio di tutti li primi canti d’Orlando Furioso fatti per la signora Laura Terracina im namhaften Verlag des Gabriel Giolito de Ferrari.1 Bereits im Folgejahr erfolgt eine zweite Ausgabe mit bedeutenden Änderungen. Zwischen 1551 und 1554 werden zwei weiter Editionen veröffentlicht – immer bei Giolito – deren Änderungen und Korrekturen allerdings nur noch punktuell sind. Die Ausgabe von 1554 wird dann auch mehrheitlich als Grundlage für die 25 folgenden Editionen gelten. In der zweiten Ausgabe von 1550 werden von der Autorin so ganze Oktaven ausgetauscht und die Adressaten der Widmungsoktaven geändert, so verschwindet im Gesang 18 Anton Fugger, welcher 1550 durch Donna Clarice Drusina Principessa d’Ostiliano ersetzt wird. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren.2
Mit ihren Discorsi schreibt Laura Terracina sich in der Tat in die Mode der Orlando-Kommentare ein, denn das Werk Ariostos hatte es, wie bereits erwähnt, zum Bestseller der Renaissance gebracht.3 Schon in ihren Prime Rime hatte sie das Prinzip der Transmutazione des Orlando zur Anwendung gebracht.4 Wie die dritten Fassung des Orlando furioso selbst, besteht der Discorso aus 46 Gesängen, die jeweils sieben Oktaven enthalten, denen eine Widmungsoktave vorangestellt wird. Im ersten Teil des Discorso ist der letzte Vers die sukzessive Aufnahme eines Verses der ersten Oktave des entsprechende Gesanges im Orlando, mit Ausnahme der jeweils siebten Oktave, die die beiden letzten Verse der ersten Oktave des jeweiligen Gesangs des kommentierten Textes reproduziert. Laura Terracina bringt somit die Techniken des Centone5 und der spanischen Glosa6 zusammen, wobei sie bei diesem literarischen ‚Spiel‘ nicht immer große Sorgfalt walten lässt, denn häufig erscheinen die von Ariosto entlehnten Abschlussverse der Oktaven nahezu als Fremdkörper.
In der Tat ist es nicht der ästhetische Wert, der das Werk der Terracina auch heute noch lesenswert macht, sondern vielmehr seine kulturhistorische Bedeutung als Kritik an der damaligen, insbesondere neapoletanischen Gesellschaft, sowie seine Bedeutung für die europäische Querelle des femmes.7
Unter den Adressaten der Widmungsgesänge erscheinen wichtige politische Persönlichkeiten der Renaissance, die sich insbesondere im Kontext Neapels finden lassen. So ist der erste Gesang Karl dem Fünften gewidmet, Herrscher über Spanien, und damit in diesen Jahren auch über Neapel. Als dessen Stellvertreter vor Ort erscheint der Viceré von Toledo (Gesang XVIII). Aber auch Henri II de Valois (XL), der Sultan Solimanni (XLII), Philipp Markgraf von Hessen (XLV) sowie Philipp von Österreich, Prinz von Spanien (XLVI) gehören zu den Adressaten der Widmungsoktaven. Erscheint das Netz der Adressaten auf den ersten Blick einer prospanischen Haltung der Autorin zu entsprechen, so finden sich jedoch auch eine gewisse Anzahl von Widmungsgesängen, die an Persönlichkeiten gerichtet sind, die klar dem proreformatorischen Kontext, in der Form des Valdesianismus, zuzurechnen sind, wie Bernardino Bonifacio Marchese d’Oria, dem die Autorin 1549 das gesamte Werke widmete, aber auch Costanza d’Avalos (X), sowie Maria d’Aragona (XXXVIII). 13 der 46 Gesänge sind generischen Adressaten gewidmet, wie den „verräterischen Freunden“ („amici traditori“) im Gesang IV oder „den Feinden der Frauen“ („nemici delle donne“) im Gesang V oder aber den „unsteten und wankelmütigen Männern“ („instabili e infermi uomini“) im Gesang XXIX. In diesen Gesängen kommt in der Regel auch eine starke moralisierende Komponente zum Ausdruck, wohingegen der Bezug zu den realen Adressaten in den Gesängen häufig nicht nachzuvollziehen ist, und sie tatsächlich mehrheitlich enkomiastischen und rhetorischen Charakters sind. Allerdings lässt eine Lektüre ‚zwischen den Zeilen‘ eine Art Handlungsstrang der neapolitanischen Gegebenheiten erahnen, der den historischen Handlungsstrang der Religionskriege des Orlando ersetzt. Auch verstärkt Terracina die gesellschaftskritische und moralisierende Komponente der dritten Fassung des