Der alte Fontane steht solchen Visionen tief skeptisch gegenüber. Er erzählt eher eine Aporie bloßer Ideen und Utopien, als sich ihnen hinzugeben. Die Deutschen Naturalisten, vor allem Gerhart Hauptmann und Arno Holz, teilen Zolas Antithesen, sehen sie aber prinzipiell unaufgelöst. Natur im Sinne Rousseaus oder der Romantik ist bei ihnen der handelnden Außenwelt gegenüber buchstäblich Erinnerung, so aber hat sie immer noch ihren Sehnsuchtswert. Wie durch ein Fenster schaut sie manchmal in die Gefängnisse der naturalistischen Dramen-Räume herein. Und Sehnsuchtswert hat eine freundliche, humane Natur auf alle Fälle auch für Fontane. Man denke über die bisher vorgestellten Natur- und Liebes-Räume hinaus überhaupt an den Mythos der Ozeanien, Undinen und Melusinen, der Natur-Wesen, ein Mythos der Fontane zeitlebens faszinierte. Aber Sehnsüchte oder Mythen haben bei ihm nicht einfach Recht. Ich habe gezeigt, wie beide Seiten der antithetischen Naturauffassung, z.B. der Zolas, sich bei ihm finden lassen; sie erscheinen freilich feiner, sozusagen homöopathisch gemildert – das Medizinische ist für die Naturalisten immer eine Orientierung gewesen, und Fontane war ja von Haus aus Apotheker.
Fontane argumentiert, was man ihm ja auch oft vorgeworfen hat, lediglich in indirekten Verweisen. Und er verfolgt – das darf nicht verwischt oder gar gleichgesetzt werden – ein von den Naturalisten grundsätzlich verschiedenes, erzählstrategisches Ziel.40 Bei Zola sollen sich die Leser von der Evolution mittragen lassen und ihrerseits an ihr arbeiten. Die Deutschen Naturalisten provozieren Alternativen, vielleicht auch Protest. Fontane sucht im Netz der Metonymien den „großen Zusammenhang der Dinge“, wie es im Roman Der Stechlin heißt.41 Genauer: Die Kunst des Verweisens will die Antithesen der zuletzt nicht weniger deutlich als bei den Naturalisten gesehenen ‚harten‘ Realität übersetzen in Reflexion, Sprache, Bewusstsein der Gefühle und in Denken. Der ‚große Zusammenhang‘ ist für Fontane alles andere als eine evolutionäre Utopie, wie Zola sie entwirft, sondern ein bewusst gesuchter und ganz illusionslos, ja durchaus skeptisch gesehener, allenfalls möglicher intersubjektiver Konsens: ein gesuchter, allenfalls möglicher, aber keinesfalls gegebener oder gar sicherer humaner Fortschritt. So formuliert gerade das vollkommen humanisierte Naturwesen Melusine, eine liberal und progressiv denkende Aristokratin in Fontanes letztem Roman Der Stechlin (1889), diese sozusagen regulative Idee der Humanität am klarsten, wenn sie sagt, dass „wir […] den großen Zusammenhang der Dinge“ in allen „neuen“ Bestrebungen suchen und dafür „recht eigentlich leben“ sollen. Aber sie hält diesen „revolutionären Diskurs“42 nicht als Vision oder Hymne, wie Zolas Sprachrohr, der Docteur Pascal, sondern gerade auch den Lesern gegenüber von gleich zu gleich, nur so ist intersubjektiver Konsens möglich, als Gespräch, ja, – und warum nicht? – im Plauderton.
Literaturverzeichnis
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