Und es erinnert eben von ferne auch an Zola. Auf einem aufgegebenen Friedhof beginnt Zolas zwanzig bändiger Romanzyklus Les Rougon-Macquart (1871–1893), also der Anfang der ganzen Familiengeschichte, mit dem Roman La fortune des Rougon (1871). Aber dies ist jetzt ein vegetativ wuchernder Natur-Ort, wo immer wieder ganz zyklisch Tod in Leben, also wo ganz drastisch menschliche Verwesung in Pflanzen und Blumen übergegangen war, und in, ja, auch dies, in Früchte, etwa in saftige, wohlschmeckende Birnen, die ihrerseits wieder gegessen werden, so dass der Zirkel von Leben und Tod, tatsächlich geschlossen wird.28 Zola macht aus dieser Friedhofs-Wiese einen geradezu mythischen Ort: „une mer d’un vert sombre, profonde (d‘)une fertilité formidable“,29 „ein tief dunkel-grünes Meer“ – „la mer“, „das Meer“, ist im Französischen phonematisch gleich mit ‚la mère‘, ‚die Mutter‘, was hier natürlich bedeutsam ist –, ein, wörtlich genommen, ‚mütterliches Meer‘ von ‚außerordentlicher Fruchtbarkeit‘. Und die beiden ersten Romangestalten, die nachts aus romantischem Walddunkel heraustreten: ‚Miette‘, wörtlich ‚Brotkrume‘, und ‚Silvère‘, ‚der Waldige‘, ihr Aussehen, z.B. Miettes prächtiges Haar „pareils à une mer crépue“,30 das einem „gekräuselten Meer“ gleicht, nehmen das Thema lebendiger Naturtotalität ebenso auf, wie die ganze romantische Liebes- und Revolutionsgeschichte dieser beiden Kinder.
Nur in solchen Naturräumen können Zolas Liebende glücklich sein: im Kontrast zu den gierigen Meuten, die sich um Erfolg und Besitz raufen, oder den todbringenden Maschinenwelten der Mietshäuser, Destillen und Fabriken. Die Gärtnerei in Irrungen, Wirrungen, der freilich „alles Feinere fehlte“ (324), ein kleinbürgerliches Paradiesgärtlein zwischen Karotten und Lauch, an das der vielfach belebte Tiergarten-Park angrenzt, ist gleichwohl für Lene und Botho ihr Natur-, Freiheits- und Seelen-Raum voller „Duft und Frische“ (342), wo sie sich außerhalb von Konvention und Verstellung ihrer Liebe, ja lediglich deren Illusion hingeben können. Und diese Liebe ist für Fontane, wie eigentlich im ganzen 18. und 19. Jahrhundert, ein bedeutsamer Teil, pars pro toto, für Humanität. Sehr viel deutlicher und kräftiger nun kann man die Variation solcher Natur- und Humanitätsinseln, freilich auch ihre entschiedene, farbenfrohe Vergrößerung in den Rougon Macquart wieder finden: Von dem Großstadtgarten, kostbar und gepflegt wie ein Salon, in dem Roman mit dem bezeichnenden Titel Une page d’amour/Ein Blatt Liebe (1878), über die luftige und helle Dachterrasse mit ihren Kübelpflanzen hoch über der Seine in La Curée/Die Meute (wörtlich ‚Beute der Hunde‘ nach der Hetzjagd, 1874), einem paradiesischen Kinderzimmer, aus dem heraus die Romanheldin noch brutaler als Cécile oder Effi an einen viel älteren Mann ‚verkauft‘ wird, oder kontrapunktisch entsprechend später über den großen warmen Wintergarten, der zum bevorzugten Treffpunkt der Liebenden im selben Roman wird (wie in Fontanes L’Adultera, 1882), ja bis hin zu dem kleinen Grasplatz mit dem vertrockneten Baum in L’Assommoir (1877), wo Gervaise und ihr Goujet von ihrer Liebe nur zusammen reden und träumen, wo der Anblick von ein paar Buchsbaumhecken vor einer Kneipe sie fast zu Tränen rührt und Goujet für Gervaise viele Löwenzahnblüten pflückt,31 so wie Stine und Waldemar bei Fontane, die durch das Fenster nur auf ein paar Bäume blicken können. Aber hat dann nicht auch in Irrungen, Wirrungen der kleine Vorgarten, in dem das „gärtnernde“ Kind mit Lenes „Leid des Lebens“ mitfühlt, eine Bedeutung, die solche Zusammenhänge wachruft?
Alle diese Räume verweisen bei Fontane und in den bis jetzt gezeigten Kontexten auch bei Zola lediglich auf freiere sinnerfüllte Natur in der Tradition der Romantik. Doch bei Zola gibt es solche all-lebenden Vegatations-Welten auch ganz farbig und direkt. Denn von den domestizierten Natur-Räumen in der Großstadt reicht bei dem wichtigsten Romancier des europäischen Naturalismus die erzählte und imaginierte Galerie der Naturentwürfe bis zu dem mythisch-tellurischen Raum einer nun in der Tat zyklischen Natur, Inbegriff der „forces mères/mütterlichen Kräfte“, in La terre (1887),32 oder zu der Garten-, Fluss- und Inselwelt im Mittelteil des Künstlerromans L’Œuvre (1886), in der die das Leben verzehrende künstlerische Arbeit keinen Platz hat, in der aber die Liebe und das Kind, die Antithesen, ja Anti-Mythen der Kunst, leben und gedeihen, ein Naturraum, den Lene und Botho vergleichbar in ‚Hankels Ablage‘ noch kürzer auch nur durchqueren dürfen, oder, – und hier, so könnte man sagen, wird Effi Briests Kindheitsgarten in großem Maßstab explizit gemacht – bis hin zu dem verwilderten Park ‚le Paradou‘, ein Garten Eden voll Blumen, Früchten, von Bächen durchzogen usw., in La Faute de l’abbé Mouret (1875), „une île (de) nature tout à fait primitive“ (eine Insel ganz ursprünglicher Natur),33 wo der von seinen Zwängen befreite Priester und das vollkommene romantische ‚Naturkind‘ – Effi Briest ist dies ja nur mit einem Teil ihres Wesens – jenes Liebesglück finden, freilich auch den romantischen Liebestod, an dem Effi (nicht zufällig heißt der Name ‚Eva‘) allenfalls von ferne teilhat. Und bei Zola wird dieser Garten ‚le Paradou‘ im Schlussroman des Zyklus Le docteur Pascal (1893) und in der Vorstellung und im Gefühl zweier Liebender ausdrücklich, und wie ein Bekenntnis, neu erschaffen.34 Zuletzt beherrscht dann bei Zola ein neugeborenes Kind die allerletzte Roman-Szene, das als „appel à la vie/als Anruf an das Leben“, sein Fäustchen in den Himmel reckt.35 Freilich, hat nicht auch in Effi Briest ein symbolischer Garten, von einem Eva-Kind bewohnt, auch wenn es ein totes ist, zumindest ein letztes Wort, zumindest eines von mehreren, allerdings eben als metonymisches Argument in absentia, als Hinweis auf etwas Lebensnotwendiges, das fehlt?
Fontane und der Europäische Naturalismus
Natürlich gäbe es jetzt über die verschiedenen Argumentationsformen und ihre Sinnperspektive bei Fontane, das was er ‚Verklärung‘ nannte, über die Verschiedenheit seiner Metonymien zu den naturalistischen antithetischen Totalisierungen bei Zola und anderen noch viel mehr zu sagen. Fontane hat sich ja auch von Zola in Aufzeichnungen und Briefen zwischen 1880 und 188336 in fast schon übertriebener Lautstärke abgegrenzt (ihn freilich auch wohl nur sehr selektiv gekannt).37 Aber die distanzierten, gleichwohl festen Gemeinsamkeiten bleiben sprechend: Die farbigeren, großflächigeren, expliziteren Texte Zolas können auch bei Fontane feine Fäden sichtbar machen, die ihn mit dem Europäischen Naturalismus verbinden.
Aber Fontane verweist nur darauf, wie auf einen Rahmen von Zwang und Sog, von Sehnsucht und Gefahr, der nicht zuletzt eben auch unsere drei Erzählungen, Cécile, Irrungen Wirrungen und Stine verbindet. Doch übersehen wir bitte die tiefen Unterschiede nicht! Der naturalistische Rahmen mit seinen kräftigen Farben gilt, aber die feinen Fäden im Erzählwerk Fontanes sagen letztlich etwas anderes. Die antithetischen Natur- und Gesellschaftsentwürfe Zolas: Natur als vitale, liebende Heimat, Natur als Kampf ums Dasein, diese Gegenwelten heben sich evolutionär auf. Das Gesamtsystem lebendiger Naturgesetze, das auch Zivilisation, ja Technik und Intellekt beherrscht, heilt sich auf lange Sicht selbst. Die Kranken leben nicht fort, gesunde neue Triebe sprießen überall hervor, die bösen Anlagen zerstören sich wechselseitig oder werden vertrieben, Arbeit, Klugheit, Liebe, Kunst und Literatur, nicht zuletzt patriotisches Engagement, tun das ihre; auch das Geld ist zugleich „empoisonneur et destructeur“, „zerstörerisches Gift“ und notwendiger „Dünger“ des Fortschritts, „le ferment de toute végétation sociale“, bis hin zur Bedingung einer neuen Welt, „le réveil d’un monde, l’humanité