»Wie bereits gestern Abend bekannt wurde, ist am Sonntagnachmittag gegen vierzehn Uhr eine Gefangene aus der Justizvollzugsanstalt Aachen geflohen. Über die genauen Umstände ihrer Flucht wollten die Behörden bisher aus ermittlungstaktischen Gründen keine Angaben machen. Nach Informationen des WDR liegt jedoch der Verdacht nahe, dass die Flüchtige Hilfe von außen erhalten haben muss. Die Polizei warnt die Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen und im angrenzenden Rheinland-Pfalz sowie im Saarland, keine weiblichen Personen in ihren Fahrzeugen mitzunehmen. Die flüchtige Straftäterin heißt Susanne Krause, ist etwa eins siebzig groß, schlank und hat dunkelbraunes, glattes, schulterlanges Haar ...«
Janna verschluckte sich und hustete. Ein ungutes Gefühl in ihrer Magengrube paarte sich mit heftigem Herzklopfen. Ihr wurde kalt, sodass sie sich unbewusst über die Arme rieb.
»Über ihre Bekleidung zum Zeitpunkt der Flucht ist nichts Genaues bekannt. Auf der Internetseite des WDR finden Sie ein Foto der Straftäterin. Susanne Krause ist vermutlich bewaffnet und gilt als sehr gefährlich. Sollten Sie eine Person sehen, auf die ihre Beschreibung passt, lassen Sie äußerste Vorsicht walten und informieren Sie umgehend die nächste Polizeidienststelle. Inhaftiert wurde die vor Gewalttätigkeiten nicht zurückschreckende Krause im vergangenen November für diverse Morde und Mordversuche, nachdem die Sicherheitsbehörden in Zusammenarbeit mit der Landespolizei ...«
»Janna, stimmt etwas nicht? Du bist so blass geworden.« Besorgt legte Linda ihrer Tochter eine Hand auf den Arm. »Geht es dir nicht gut?«
»Ja, Janna, du siehst aus wie ein Käse.« Neugierig musterte auch Till sie. »Wie ein Käse, der ein Gespenst gesehen hat.«
»Halt die Klappe.« Susanna stieß ihrem Bruder unsanft den Ellenbogen in die Seite. »Ist dir schlecht geworden, Janna? Du hast aber doch nur eine Waffel gegessen. Ich schon drei und mir ist nicht schlecht.«
Gewaltsam riss Janna sich zusammen und bemühte sich um eine normale Miene. »Nein, schon gut. Mir ist nur gerade etwas eingefallen. Eine ... Ich habe etwas Wichtiges vergessen. Eine Abrechnung, die eine meiner Kundinnen ganz dringend braucht ...« Sie erhob sich hastig. »Für die ... äh, für die Steuer. Ich laufe rasch rüber und schicke sie ihr per E-Mail. Bin gleich wieder da.«
»Ach herrje, hat das nicht Zeit bis nach dem Frühstück?«, rief Linda ihr hinterher, doch Janna achtete nicht darauf. Kaum war sie aus dem Haus, als sie auch schon ihr Handy aus der Hosentasche zog und mit fliegenden Fingern eine Nummer wählte. Es dauerte nur Sekunden, bis sich Markus Neumann am anderen Ende meldete. »Hallo Janna.«
Im Laufschritt überquerte sie das unebene Kopfsteinpflaster im Hof und betrat ihre eigene geräumige Küche durch die Seitentür. »Hallo Markus. Hast du schon gehört? Susanne Krause ...«
»… ist aus dem Gefängnis ausgebrochen. Ja, ich weiß. Ich hatte mich schon gefragt, wann du anrufen würdest.«
Janna schnappte empört nach Luft. »Du wusstest es schon länger und hast mir kein Wort davon gesagt? Warum hast du mir nicht gleich Bescheid gegeben?«
»Ich weiß es seit gestern Abend. Hab es selbst aus den Nachrichten erfahren. Seitdem hänge ich in Dauersitzungen fest. Ich hätte mich schon noch bei dir gemeldet. Walter will, dass du herkommst. Hast du heute Mittag um zwölf Zeit?«
Janna fuhr sich durch ihre schulterlangen kupferroten Locken und sah sich nervös in der Küche um. Ihr Herz pochte noch immer unnatürlich schnell, und fast erwartete sie, Susanne Krause plötzlich vor sich stehen zu sehen. »Klar komme ich ins Institut. Ich ... Mir fällt schon etwas ein. Meine Eltern fahren heute mit den Kindern zum Nürburgring und ich wollte eigentlich ...« Sie schluckte. »Was machen wir denn jetzt? Ich meine, sie wollte mich umbringen, Markus! Und jetzt läuft sie irgendwo da draußen herum ...« Wieder sah sie sich fahrig in ihrer Küche um und ging dann durch den breiten Durchgang mit der offenen Schiebetür hinüber ins Wohn- und Esszimmer. »Bin ich jetzt in Gefahr? Oder meine Familie?«
»Das ist nicht auszuschließen. Aber mach dir keine Sorgen, Dirk und Alfred überwachen euer Grundstück schon seit gestern Abend und werden sich mit einem zweiten Team rund um die Uhr abwechseln, bis wir Susanne Krause wieder einkassiert haben.«
Janna stieß erleichtert und besorgt zugleich die Luft aus. »Dirk Kellermann und Alfred Hasselbaum?« Sie kannte die beiden Agenten von früheren Fällen, in die sie mit Markus verwickelt worden war. Wider besseres Wissen trat sie an eines der großen Wohnzimmerfenster und suchte die Umgebung mit den Augen ab. Selbstverständlich war von einem Überwachungsfahrzeug keine Spur zu erkennen. »Danke.«
»Du sagst, deine Eltern wollen heute mit den Zwillingen wegfahren?«
»Ja, zum Nürburgring. Ringtaxi fahren und alles besichtigen. Sie haben das schon länger geplant.«
Janna hörte, wie Markus leise etwas zum jemandem sagte, dann antwortete er: »Wir kümmern uns darum, dass sie auch dort überwacht werden. Tut mir leid, aber ich muss wieder in die Sitzung. Zwölf Uhr im Institut? Und check deine Passwörter. Der Zugangscode wurde heute früh wieder geändert.«
»Okay ...« Janna blickte irritiert auf ihr Smartphone, denn Markus hatte schon wieder aufgelegt. Etwas zittrig atmete sie tief durch. »Okay.« Sie steckte das Handy zurück in die Hosentasche.
Dass die beiden Agenten für ihre Sicherheit sorgten, beruhigte sie ein wenig. Dennoch stiegen unangenehme Erinnerungen in ihr hoch. Susanne Krause war nicht bloß eine gewaltbereite Mörderin, sie war eine waschechte Psychopathin. Sie hatte Janna im vergangenen November gezwungen, sich auf ein Ergorad zu setzen, das mit einer Bombe verbunden gewesen war. Janna hatte nicht mit dem Treten aufhören dürfen, andernfalls hätte sie die Bombe ausgelöst. Nur mit sehr viel Glück und Mut hatte sie es geschafft, Markus zu informieren, der sie mit der Hilfe eines Bombenräumkommandos aus der tödlichen Falle befreit hatte. Bestimmt hatte Susanne Krause erfahren, dass ihr Mordversuch misslungen war. Was, wenn sie es jetzt erneut versuchte?
Und alles nur, weil sie – Janna und Markus – ihr bei ihren Plänen in die Quere gekommen waren. Janna mochte sich gar nicht vorstellen, was diese Frau anstellte, wenn sie herausfand, dass Markus jetzt wieder hinter ihr her war. Und offenbar wollte das Institut nun auch erneut die Hilfe ihrer zivilen Hilfskraft.
Janna hatte damals beinahe diesen Nebenjob hingeschmissen, weil ihr bewusst geworden war, wie gefährlich – lebensgefährlich! – die Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst sein konnte. Aber dann hatte sie doch weitergemacht und nun sogar eine Festanstellung angeboten bekommen, als Markus’ offizielle Partnerin. Zivile Mitarbeiterin würde sie natürlich weiterhin bleiben, denn ihr fehlte die Ausbildung zur richtigen Agentin, und sie war sich auch nicht sicher, ob sie für solch einen Posten überhaupt geeignet gewesen wäre. Doch Walter Bernstein, der Leiter von Markus’ Abteilung, hielt sie für fähig genug, gemeinsam mit Markus eine neue Unterabteilung aufzubauen, die in Kürze geschaffen werden würde. Besonders komplizierte und verzwickte Fälle oder solche, die in die übrigen Abteilungen nicht recht hineinpassten, sollten sie bearbeiten, zunächst wohl nur zu zweit, später dann mit einem richtigen Team.
Janna empfand die Aussicht auf die neue Stellung als aufregend und beunruhigend zugleich. Noch vor einem Jahr wäre sie im Traum nicht auf den Gedanken gekommen, einmal für einen Geheimdienst in der Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen zu arbeiten. Doch dann war ihr eines Tages mitten auf dem Flughafen Köln-Bonn dieser verboten attraktive Geheimagent über den Weg gelaufen und hatte sie gedrängt, einen Umschlag an sich zu nehmen und einem seiner Kollegen auszuhändigen. Von diesem Tag an hatte sich ihr Leben grundlegend verändert. Gemeinsam hatten sie so einige gefährliche Verbrecher dingfest machen können. Susanne Krause gehörte eindeutig zu der Sorte, die sie niemals vergessen würde, und nun lief diese Frau wieder frei irgendwo da draußen herum.
Janna schauderte bei dem bloßen Gedanken, war sich jedoch im Klaren, dass sie sich gegenüber ihrer Familie nichts anmerken lassen durfte. Also atmete sie noch einmal tief durch, straffte die Schultern und setzte sogar ein glaubhaftes Lächeln auf, als sie ins Haus ihrer Eltern zurückkehrte.
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