Als plötzlich das Licht in der Music hall erlosch, war das Tohuwabohu perfekt. Lady Agatha lehnte sich zufrieden zurück und genoß das erfreuliche Treiben. Mit dem ihr eigenen Instinkt witterte sie Komplikationen, ja, sogar einen interessanten Fall. Schließlich war sie zusammen mit ihrem Butler nicht grundlos hierher an die schottische Ostküste gekommen, um in dem Ferienort Montrose südlich von Aberdeen Quartier zu nehmen. Gewisse Kreise hatten sie und den Butler wieder mal gebeten, sich helfend einzuschalten. Der Startschuß dazu schien eben erst gefallen zu sein.
Obwohl es stockfinster im Saal war und die Notbeleuchtung aus unerfindlichen Gründen nicht brannte, obwohl der Lärm riesengroß war, merkte die alte, streitbare Lady plötzlich, daß sie nicht mehr allein in der kleinen Loge war.
Irgendwer mußte sich hereingestohlen haben.
Lady Agatha reagierte augenblicklich und sehr konsequent. Sie versetzte ihren Pompadour am Handgelenk in wirbelnde Bewegung und – stieß mit dem darin befindlichen Glücksbringer auf ein Hindernis. Ein häßliches Knirschen war zu hören, dann ein unterdrücktes Stöhnen und schließlich ein dumpfer Fall.
»Mister Parker?« fragte Agatha. Simpson sicherheitshalber. Als die Antwort ausblieb, in diesem Augenblick aber auch die Notbeleuchtung eingeschaltet wurde, entdeckte sie zu ihrer Erleichterung, daß sie ihren Butler nicht außer Gefecht gesetzt hatte. Zu ihren Füßen lag ein untersetzter, massiv aussehender Mann von etwa vierzig Jahren, der eine hüftlange, schwarze Lederweste trug. Seine Jeans steckten in Gummistiefeln, die brandneu aussahen, in der leicht geöffneten Hand dieses Mannes befand sich ein ansehnlicher Schraubenschlüssel, um den ein Fetzen Schaumstoff gewickelt war.
Lady Simpson hätte selbst einen Taschendieb beschämt, so schnell durchsuchte sie die Taschen dieses Mannes, barg, was sie fand, im Pompadour, richtete sich auf und stieß dann einen Schrei des Entsetzens aus, der die Notbeleuchtung wieder verlöschen ließ.
*
»Eine beschämend magere Ausbeute, Mister Parker«, stellte Lady Agatha eine knappe Stunde später fest. Sie befand sich zusammen mit ihrem Butler im »St. Cyrus«, einem kleinen, angenehmen Hotel am Stadtrand von Montrose. Der Butler hatte sie in ihre Zimmerflucht hinaufgeleitet und sah sich jetzt die Gegenstände an, die seine Herrin erbeutet hatte.
»Wenn Mylady gestatten, möchte ich widersprechen«, antwotete Josuah Parker und sortierte die Gegenstände, »aus dem Lohnzettel geht hervor, daß der ungebetene Besucher von Myladys Loge ein gewisser Dan Mulligan ist, der für die ›Battersea Oil Company‹ arbeitet, und zwar als Vormann, wie hier zu ersehen ist.«
»Was besagt das schon?« ärgerte sich die streitbare Dame. »Ich bereue es jetzt, daß ich dieses Subjekt nicht mitgeschleppt habe.«
»Diesem Unterfangen hätten sich mit Sicherheit einige Schwierigkeiten entgegengestellt«, behauptete der Butler gemessen, »besagter Dan Mulligan wird sich jederzeit finden lassen.«
»Wollte er mich wohl umbringen?« Lady Simpson deutete auf das Klappmesser, das sie ebenfalls in den Taschen des Mannes gefunden hatte.
»Man wird Mister Mulligan bei Gelegenheit danach fragen müssen, Mylady.«
»Ich freue mich schon jetzt darauf.« Lady Simpsons Augen funkelten animiert. »Dieses Subjekt ist von mir doch viel zu sanft behandelt worden.«
»Möglicherweise dürfte Mister Mulligan darüber erheblich anderer Ansicht sein, Mylady«, gab der Butler zurück, der den Glücksbringer natürlich kannte. Während er noch redete, nahm er drei Ansichtspostkarten hoch. »Ein erstaunlich schreibfreudiger Vorarbeiter.«
»Drei verschiedene Adressen, aber alle in London«, sagte Lady Simpson, die die Postkarten bereits kannte. »Dieser Lümmel teilt den Empfängern mit, daß es ihm gutgeht. Seine nächste Ansichtskarte wird nicht mehr so optimistisch klingen, hoffe ich wenigstens.«
Josuah Parker überflog die wenigen Zeilen auf den drei Postkarten, die nichtssagend klangen und dem üblichen Text auf Ansichtskarten entsprachen. Dennoch fertigte Parker sich gewissenhaft Kopien dieser knappen Texte an und notierte sich auch die Anschriften. Kleinigkeiten, das hatte ihn die Erfahrung gelehrt, waren oft wichtiger als lautstarke Ereignisse.
»Mister Mulligan scheint ein eifriger Besucher der Music hall zu sein«, stellte der Butler fest und zeigte seine Herrin ein halbes Dutzend abgerissener Eintrittskarten. »Mister Mulligan scheint in der vergangenen Woche jeden Abend Gast der Vorstellung gewesen zu sein.«
»Was folgern Sie daraus?« Lady Simpson sah ihren Butler erwartungsvoll an.
»Er dürfte ein Liebhaber des Varietés sein, Mylady.«
»Sie haben eben keine Phantasie, Mister Parker«, tadelte sie prompt, »ich als Schriftstellerin und Künstlerin sehe das ganz anders.«
»Mylady haben bereits eine bestimmte Theorie?« Parker wußte nur zu gut um das neue Hobby der Agatha Simpson. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, eine gewisse Agatha Christie in den Schatten zu stellen. Mylady arbeitete an ihrem ersten Kriminalroman, der die Fachwelt in Erstaunen und Entzücken zugleich versetzen sollte. Sie arbeitete daran schon seit einigen Monaten und gab sich noch den unbedingt notwendigen Vorstudien hin.
Seit dieser Zeit entwickelte die Detektivin am laufenden Band Themen und Theorien. Ihr Erfindungsreichtum in dieser Hinsicht war mehr als erstaunlich. Selbst Butler Parker war kaum noch in der Lage, den Gedankensprüngen der streitbaren Lady nachzukommen.
»Natürlich habe ich eine bestimmte Theorie«, gab die Sechszigjährige also zurück, »da das Programm bis auf das Nummerngirl miserabel ist, hat er sich entweder in dieses Nummerngirl verliebt, oder aber er hat einen anderen Grund, den wir noch herausfinden müssen.«
»Sehr überzeugend, Mylady«, erwiderte der Butler, ohne eine Miene zu verziehen.
»Was ist denn das?« fragte Agatha Simpson und wechselte das Thema, als sie auf einen billig aussehenden Ring stieß, den ihr Butler aussortiert hatte. »Ist das nicht geradezu geschmacklos? Wie kann man nur solch einen Glasstein mit sich herumschleppen?«
Parker hielt den Ring mit dem einfach gefaßten Glasstein prüfend gegen das Licht.
»Ich möchte nicht unbedingt widersprechen«, sagte er dann in seiner unnachahmlich höflichen Art, »aber Mylady irren möglicherweise.«
»Wieso?«
»Dieser angebliche Glasstein, Mylady, ist ein Diamant!«
»Ausgeschlossen, Mister Parker!« Sie sah ihn und dann den Stein verächtlich an. »Ich weiß doch schließlich, was Qualität ist!«
»Gewiß, Mylady.« Parker verzichtete auf lange Erklärungen, ging zum Fenster und ließ die Kante des großen Steins über das Glas gleiten. Es knirschte sanft, während ein deutlich sichtbarer Kratzer zurückblieb.
»Lassen Sie dieses impertinente Grinsen«, hauchte Mylady ihren Butler daraufhin an, obwohl Parker nun wirklich keinen Muskel im Gesicht verzogen hatte. »Ausnahmsweise haben Sie mal das große Los gezogen. Wie kommt solch ein Subjekt an solch einen teuren Stein, der wenigstens einen halben Karat schwer ist?«
»Darauf vermag ich im Moment nicht zu antworten«, gestand Josuah Parker, »aber lange wird man wohl nicht warten müssen, bis besagter Mister Mulligan versuchen wird, sich den Stein wieder zurückzuholen. Eine gewisse Vorsicht für den Rest der Nacht dürfte demnach angeraten sein.«
»Sie machen mir Hoffnung«, freute sich die ältere Dame und sah in diesem Augenblick sehr grimmig aus. »Ich hoffe, daß er mich nicht enttäuscht!«
*
Das langbeinige Nummerngirl befand