Die Abteilungsleiter hatten für das Programm damals junge Mitarbeiter benannt, von denen sie aus irgendeinem Grund annahmen, dass sie zu Höherem berufen waren. Bei den Mitarbeitern hatte dieser Schritt erhebliche Erwartungen ausgelöst. Sie sahen sich umgehend auf dem Weg nach oben. Einige konnten nur mit viel Überredungskraft davon abgehalten werden, ihre Zugehörigkeit zum Hi-Po-Programm auf ihrer Visitenkarte anzugeben. Erst fühlten sie sich um die Früchte ihrer Ernennung gebracht, doch später waren sie dankbar gewesen für den Rat, denn nach der Aufnahme in das Programm geschah nichts mehr. Sie warteten vergeblich auf die Beförderung und machten ihren Job weiter wie jeder andere. Die wenigen Stellen, die frei wurden, waren anderweitig besetzt worden und die Hoffnung, besonders gefördert zu werden, erfüllte sich auch nicht. So recht wusste niemand, wozu es eigentlich gut war, in dieses Programm aufgenommen worden zu sein, doch niemand mochte fragen. Die Furcht war zu groß, dass diese Frage womöglich zum Ausschluss führen würde.
Immerhin erinnerte einmal im Jahr das Human Resources Department an das Hi-Po-Programm. Dann war es wieder an der Zeit, dass jeder Vorgesetzte auf einem speziellen Beurteilungsbogen ankreuzte, wie es bei den eigenen Kandidaten um Leadership, Durchsetzungskraft und andere Eigenschaften, die man von einem zukünftigen Manager zu Recht erwarten würde, bestellt war. Die Bosse waren großzügig mit ihren Einschätzungen. Sie fürchteten, dass kritische Urteile auf sie zurückfallen würden. Das galt es zu vermeiden. Da war es nur vernünftig, dass die Beurteilungsbögen bei der Mitarbeiterauswahl unbeachtet blieben.
Man hatte deshalb kurzzeitig erprobte und bewährte psychologische Tests in Erwägung gezogen, um zu einer besseren Einschätzung des Nachwuchses zu kommen. Doch das war im Vorstand schnell wieder verworfen worden und alle Führungskräfte waren dankbar. Wer konnte schon vorhersagen, was bei solch einem Test herauskommen würde? Womöglich stimmte am Ende das Ergebnis nicht mit den persönlichen Eindrücken und Erwartungen überein und dann hätte man Mühe, seine Personalentscheidungen zu begründen. Solch eine Situation wollte man lieber von vornherein ausschließen. Also lieber keine psychologischen Tests. Obwohl, ein Anstrich von Wissenschaftlichkeit würde einem Auswahlverfahren sicherlich gut anstehen.
Was die verehrten Herren denn von einem Assessment Center halten würden, fragte Frau Kluge, die man zu dieser Besprechung eingeladen hatte. Das wäre doch eine schöne Sache. Da könnte man die High Potentials mal so richtig durch die Mangel drehen. Dann würde man ja sehen, wie viel Potential sie tatsächlich fürs Management mitbrachten. Außerdem würde so ein Assessment Center genügend Möglichkeiten für individuelle Betrachtungen bieten. So ein bisschen psychologisch sei das ja auch, aber eben nicht so seelenlos wie ein genormter Psycho-Test. In einem Assessment Center würde man sehen, was die Kandidaten taugten und ob man sich um die Zukunft des Managements dieses ehrwürdigen Handelshauses Sorgen machen musste. Das überzeugte die Herren und es wurde protokolliert, dass alle Kandidaten aus dem Hi-Po-Programm zu einem Assessment Center eingeladen werden sollten. Frau Kluge würde dafür die Verantwortung tragen.
Das Assessment Center fand schon bald nach diesem Grundsatzbeschluss in einem Hotel statt, das darauf verzichtet hatte, Sterne an der Eingangstür zu präsentieren. Es waren zu wenige, um Gäste damit zu beeindrucken. Doch das Angebot war günstig gewesen und der Vorstand hatte ohnehin darum gebeten, das Umfeld schlicht zu gestalten. Sonst würden diese Youngster womöglich übermütig. Wer wusste denn, ob sie das Assessment Center überhaupt bestanden? Das würde eine harte Auslese. Da war es besser, wenn sie nicht mit einem verfrühten Eindruck von den Annehmlichkeiten eines Lebens im Management auf ihre Sachbearbeiterposition zurückkehrten.
Bereits am Mittag trafen einige leitende Damen und Herren ein, die Frau Kluge in Abstimmung mit dem Vorstand als Beobachter ausgewählt hatte. Frau Kluge hatte sie allerdings als Assessoren bezeichnet, denn sie würden nicht nur beobachten, sie würden auch bewerten, wie sich die Kandidaten im Assessment Center bewährten. Es war eine verantwortungsvolle Aufgabe, für die sie vorher noch schnell trainiert werden mussten. Sie hatten so etwas ja noch nie gemacht. Doch daran sollte es nicht scheitern. Immerhin waren drei Stunden für die Vorbereitung eingeplant, die Frau Kluge nutzen würde. Über die menschliche Wahrnehmung wolle sie etwas erzählen, sagte sie einleitend. Die habe nämlich manchmal ihre Tücken. Deshalb sollten die Assessorinnen und Assessoren doch bitte mit einer wohlwollend neutralen Einstellung an ihre Aufgabe herangehen und nicht etwa das erwartete, sondern das tatsächliche Verhalten beurteilen – ganz objektiv und unvoreingenommen. Das sei ja sicherlich nicht so schwierig. Sie seien ja alle erfahrene Manager. Dem wollte niemand widersprechen und deshalb wurden keine weiteren Fragen gestellt. Es war eine sehr hilfreiche Einführung gewesen und die Damen und Herren harrten der Dinge mit dem guten Gefühl, dass sie das Geschehen objektiv und sehr genau erfassen würden. Außerdem kannten sie ja die meisten Kandidaten aus der täglichen Arbeit. Das würde ihnen die Beurteilung erleichtern. Es konnte also losgehen.
Inzwischen waren auch alle Kandidaten eingetroffen, denn für den Vorabend des Assessment Centers stand ein gemeinsames Dinner auf der Agenda. Dahinter stand in Klammern: Networking. Da sollten sich die Teilnehmer schon einmal kennenlernen, auch wenn sie sich doch eigentlich schon lange kannten. Ganz nebenbei würde man außerdem beobachten können, ob diese Hoffnungsträger den Umgang mit Messer und Gabel beherrschten. Da kann man ja heutzutage nicht mehr so sicher sein. Doch kaum war das Essen serviert, da sprang ausgerechnet einem der Beobachter die vom viel zu langen Braten ausgezehrte Hähnchenbrust beim Versuch, sie in kleine Stücke zu schneiden, vom Teller. Da war er nur froh, dass er sich hier nicht auf dem Prüfstand befand. Warum hatte man bloß so ein billiges Hotel ausgesucht? Nun lag die Hähnchenbrust auf seiner Hose. Die neben ihm sitzenden Kandidaten reichten schnell ein paar Servietten. Ob das Teil des Assessment Centers ist, fragten sie sich insgeheim. War es überhaupt richtig, Servietten zu reichen? Oder hätte man die Sache besser mit einer witzigen Bemerkung überspielt? Dass das Huhn sehr frisch sei und noch fliegen würde. Irgendwie so etwas. Oder vielleicht doch besser so tun, als hätte man das Unglück gar nicht bemerkt? Schnell in eine andere Richtung gucken? Wenn man das doch nur wüsste. Warum war dieser Fall in keinem der Ratgeber erwähnt, die sie zur Vorbereitung auf das Assessment Center gelesen hatten?
Immerhin war jeder froh, dass den Kollegen auch keine bessere Reaktion eingefallen war. Doch konnte man sie überhaupt noch als Kollegen bezeichnen? Waren sie nicht vielmehr Konkurrenten? Man würde sie genau beobachten müssen. Von denen würde man sich die Karriere jedenfalls nicht verderben lassen. Nicht von denen. Das würde man morgen ausfechten. So leicht würden sie einen nicht kriegen. Sie hatten einem den Fehdehandschuh hingeworfen. Nun war es an der Zeit, ihn aufzuheben.
Am nächsten Morgen versammelten sich die Teilnehmer des Assessment Centers im großen Saal des Hotels. Anzug, Krawatte, Kostüm mit weißer Bluse, der Haarschnitt frisch vom Friseur und im Gesicht ein siegesgewisses Lächeln – so fühlten sie sich bereit für eine steile Karriere im Management. Gelegentlich war da allerdings ein nervöses Zucken im Gesicht zu bemerken, und wenn sie die Jacke abgelegt hätten, dann wären die Schwitzflecken wohl kaum zu übersehen gewesen. Wenn doch nur erst einmal dieses Assessment Center hinter ihnen liegen würde.
Dr. Winter hatte es sich nicht nehmen lassen, persönlich für ein Grußwort zu erscheinen. Von großartigen Karriereperspektiven, die sich in den nächsten Jahren im Unternehmen auftun würden, sprach er und dass er und seine Vorstandskollegen auf die junge Generation setzten, die bald das Ruder übernehmen würde, um dieses alteingesessene und überaus erfolgreiche Unternehmen auf Kurs zu halten. Das sei eine gewaltige Aufgabe. Dafür würde man die Besten brauchen und die würde man mit diesem Assessment Center ermitteln. Allein die Einladung sei schon eine Anerkennung. Darauf dürfe man durchaus stolz sein. Wer dann noch das Assessment Center bestünde, habe beste Aussichten auf eine große Karriere – auch wenn dies natürlich keine Garantie für eine umgehende Beförderung sei. Aber immerhin, der erste Schritt sei damit schon mal gemacht. Wer hingegen nicht bestehe, solle keinesfalls enttäuscht sein, denn dies sei nun einmal ein strenger Ausleseprozess. Schon damals im alten China habe man die Beamten nach einem ähnlichen Verfahren ausgewählt. Und damals bei der Reichswehr sei es ähnlich gewesen. Aber das sei vielleicht nicht so ein gutes Beispiel. Jedenfalls wünsche er allen viel Glück und Erfolg. Und während er das sagte, warf er noch einmal einen Blick auf die Agenda und war froh, dass er es bis zum Vorstandsvorsitzenden