Dr. Trinkaus hatte einst ein Studium der Betriebswirtschaftslehre absolviert und entgegen allen Vorhersagen seine Promotion nach vielen Jahren schließlich doch noch abgeschlossen. Gerade so, wie einige Beobachter anmerkten, aber immerhin. In Anbetracht der gezeigten Leistungen hatte sein Professor ihm allerdings schon früh den wohlmeinenden Rat gegeben, sich vom praktischen Management fernzuhalten. Dr. Trinkaus hatte sich deshalb direkt nach seiner Promotion bei einer bedeutenden Unternehmensberatung beworben, die ihn gerne einstellte, weil promovierte Berater ein höheres Honorar rechtfertigten. Die Klienten, die Dr. Trinkaus übernahm, hatten ihn dann allerdings nach ersten Erfahrungen mit seiner Beratungstätigkeit in seiner Idee unterstützt, ein eigenes Beratungsunternehmen zu gründen. Dr. Trinkaus hatte die ermutigenden Worte zu schätzen gewusst und machte sich schon bald selbstständig. Seine Hoffnung, die Kunden, die er bislang beraten hatte, auch für sein eigenes Unternehmen zu gewinnen, erfüllte sich dann aber doch nicht. Das konnte das Geschäft jedoch nicht beeinträchtigen. Im Gegenteil. Mit seiner professionell positiven Grundeinstellung und seinem stets optimistischen und jovialen Wesen gewann er schnell neue Kunden, und es war keineswegs überraschend, dass er schließlich auch bei der Labora Interesse an seinen Seminaren wecken konnte.
Nun stand Dr. Trinkaus selbstbewusst und mit einem optimistischen Lächeln im Trainingsraum seiner noch recht jungen und doch erfolgreichen Dr. Trinkaus Management Akademie. Vor ihm saß das Management der Labora und sah ihn erwartungsvoll an. Herr Ernst als Vertreter der Geschäftsführung hatte bereits ein Grußwort überbracht und einige Minuten referiert. Sein Thema war groß auf der Leinwand hinter ihm zu sehen: Was tun? Was tun! Es war eine überzeugende Aufforderung, die Geschicke der Labora nicht nur aktiv, sondern proaktiv voranzutreiben und dabei den richtigen Fokus zu entwickeln. Denn darauf käme es an. Fokus! So hatte Herr Ernst zum Abschluss seiner Einführung in das diesjährige Managementtraining es noch einmal bedeutungsschwanger auf den Punkt gebracht, und es schien fast so, als würde das Wort in der Dr. Trinkaus Management Akademie widerhallen: Fokus! Fokus!
Nun würde wohl auch der letzte Teilnehmer verstanden haben, dass hier eine kleine Revolution bevorstand. Ein Paradigmenwechsel sozusagen. Ein Wendepunkt in der Geschichte der Labora GmbH. Herr Ernst nutzte die nachdenkliche Stille, die seine Worte hinterlassen hatten, und nahm noch einen Schluck Kaffee, obwohl der doch schon kalt war. Dann übergab er das Wort an Dr. Trinkaus und ging. Er wusste, dass das weitere Training in guten Händen sein würde.
Dr. Trinkaus stand auf, damit ihn jeder gut sehen konnte. Breite rote Hosenträger boten seinen Designerjeans den notwendigen Halt, den ein Gürtel an seinem Bauch nicht gefunden hätte. Er spannte die Hosenträger und ließ sie knallend zurückschnellen. Es war wie der Startschuss zu einem großen Ereignis. An diese roten Hosenträger würden sich alle Teilnehmer auch noch nach Jahren erinnern, sagte er. Sie würden vielleicht vergessen, was er hier vortrage, aber die Hosenträger würden sie für immer in Erinnerung behalten. Das sei ein Beispiel für Fokussierung.
Die Teilnehmer schwiegen beeindruckt. So hatten sie das ja noch gar nicht gesehen. Dr. Trinkaus war zufrieden mit sich und der Wirkung seiner Worte und setzte gleich noch einen drauf. Die Teilnehmer sollten sich ja gar nicht an seine Hosenträger erinnern, sondern an das, was er ihnen in diesem Seminar vermitteln würde. Gerade deshalb sei es so wichtig, richtig zu fokussieren. Man kenne das ja vom Fotoapparat. Das hätte ja sicherlich jeder schon mal erlebt, wenn er ein Bild von seiner Liebsten gemacht hat. Wenn man da nicht aufpasse, sei die Landschaft scharf und die Liebste völlig unscharf. Dr. Trinkaus wusste, wie sehr ein Lacher am Anfang zum Erfolg eines Seminars beitrug, selbst wenn danach nicht mehr viel kam. Frau Schön lachte am lautesten. Toll, wie der das Seminar gestaltete. Sie war zufrieden mit ihrer Entscheidung für diesen Trainer. Oder hatten die Teilnehmer etwa nur aus Höflichkeit gelacht? Womöglich so, wie sie es auch taten, wenn ihre Bosse versuchten, mal einen Witz zu machen?
Fokus, sagte Dr. Trinkaus und machte damit klar, dass es nun zur Sache gehen würde. Fokus, das komme aus dem Lateinischen und habe ursprünglich nichts anderes bedeutet als häuslicher Herd. Das sei also die Stelle, wo’s brenne. Und dafür müsse ein Manager einen Blick entwickeln, indem er seine Aufmerksamkeit auf Schwachpunkte und Verbesserungspotenziale fokussiere, damit da gar nicht erst etwas anbrenne. Wie man das mache, das würden die Damen und Herren Manager in diesem Training lernen. Ach ja, Training. Dazu fiel Dr. Trinkaus auch etwas ein. Training käme ebenfalls aus dem Lateinischen. Einst habe es bedeutet, dass man eine Pflanze dazu bringe, sich in der gewünschten Form zu entwickeln. Im Training wird man also zurechtgestutzt, fügte er hinzu und hatte sich damit einen weiteren Lacher gesichert. Frau Schön sah nacheinander in die Gesichter der Teilnehmer und war zufrieden. Ja, das Training entwickelte sich gut. Allerdings hätten die Teilnehmer nun doch gerne mal gewusst, was denn nun eigentlich so bemerkenswert am Fokus sei, dass man damit einen ganzen Tag füllen könne.
Fokus, begann Dr. Trinkaus noch einmal, Fokus sei ein Ausdruck von Aufmerksamkeit. Wer schlafe sei alles andere als aufmerksam. Nur wenn man wach sei, könne man aufmerksam sein. Dann stelle sich allerdings die Frage, worauf man seine Aufmerksamkeit fokussiere. Da könne man völlig entspannt vor sich hin träumen oder aber die Aufmerksamkeit ganz gezielt auf etwas richten. Das könnten Kleinigkeiten sein ebenso wie die große Linie. Das sei die hohe Kunst des Managements, die Aufmerksamkeit richtig zu fokussieren. Fokussieren wiederum bedeute, Ablenkungen auszublenden.
Woher man denn eigentlich wisse, worauf man am besten fokussiere, wollte einer der Teilnehmer wissen. Darauf hatte Dr. Trinkaus eigentlich erst später eingehen wollen, aber nachdem die Frage nun im Raum stand, wolle er sie doch schon einmal in den Fokus rücken. Was denn die anderen Teilnehmer dazu sagen würden? Man könne das ja mal diskutieren, denn das sei eine ganz entscheidende Frage.
Nun ja, meldete sich einer der Teilnehmer zu Wort, worauf man die Aufmerksamkeit richten müsse, würde letzten Endes von der Geschäftsleitung entschieden. Man müsse da allerdings aufpassen, dass man keinen Tunnelblick entwickelte, sagte ein anderer. Denn das sei eine große Gefahr. Aber deswegen hätte die Labora ja ein Mission Statement. Beste Qualität zum Wohle unseres Unternehmens, der Kunden und der Mitarbeiter zu bieten, darum ginge es. Das könne man im Internet nachlesen. Und darauf müsse man fokussieren. Frau Schön nickte, wollte den Beitrag aber noch ergänzen und verwies darauf, dass die Labora nicht nur ein Mission Statement, sondern auch ein Vision Statement habe. Das müsse man im Kontext sehen, denn die Vision sei vielleicht noch weitreichender als die Mission. Es sei die Vision der Labora, dass sie zum Marktführer bei Inspirationen und Innovationen werden wolle. Da könne man ja keinesfalls von Tunnelblick sprechen. Das sei ja eher – um mal in der optischen Terminologie zu bleiben – ein Weitwinkelobjektiv, das leicht zu fokussieren sei. Obwohl man auch da nicht die Gefahr unterschätzen dürfe, dass das Bild am Ende unscharf würde.
Dr. Trinkaus meinte, dass man dies vielleicht alles am besten erklären könne, wenn man sich einmal mit der Struktur des menschlichen Gehirns beschäftige. Denn worauf sich die Aufmerksamkeit richtete, worauf man also fokussiere, das sei das Ergebnis komplexer Gehirnfunktionen. Manche Dinge würden im Gehirn unbewusst ablaufen, andere hingegen würden bewusst gesteuert. Man müsse deshalb verstehen, wie das alles verdrahtet sei, sagte er und begann einen längeren Vortrag über das Gehirn. Er sprach von 100 Milliarden Neuronen und noch viel mehr Synapsen, die das alles miteinander verbinden. Er hatte ein paar Ansichten vom Gehirn mitgebracht – seitlich, von unten und auch halbiert – und verwies auf die einzelnen Bereiche und wofür sie zuständig seien. Begriffe wie Neokortex, Frontallappen, Ganglien oder Amygdala gingen ihm locker über die Lippen.
Dr. Trinkaus konnte ziemlich sicher sein, dass ihm bei seinem abenteuerlichen Ausflug in die Neuropsychologie niemand ernsthaft widersprechen würde. Er selbst hatte sich ein paar Dinge mühsam angelesen und einige Fachbegriffe auswendig gelernt. Warum sollten also seine Zuhörer mehr davon verstehen? Außerdem hatte er als Unternehmensberater frühzeitig gelernt, auch Dinge zu vermitteln, von denen er selbst nichts verstand. Hier ging es nicht um Wissen, hier ging es um Rhetorik. Und die Rhetorik ließ es in diesem Kreis kaum zu, dass Verständnisfragen gestellt würden. Nein, Dr. Trinkaus wusste nur zu gut, dass Manager nur dann Fragen stellten, wenn sie beweisen wollten, dass sie es selbst viel besser wussten.
Damit nun aber die Betrachtungen der Gehirnfunktionen nicht zu abstrakt blieben, hielt Dr. Trinkaus praktische