Kurz sehe ich mir die Dampfmaschinen an und mache eine Runde in jedem Stockwerk des Museums, damit ich Tom ausreichend davon erzählen kann. Dann setze ich mich in eine Ecke und packe Dorian Gray aus. Bis morgen muss ich das durchhaben.
Schützenweg
Zum Mittagessen bin ich bei meiner Mutter. Später als üblich, weil ich es vom Museum nicht schnell genug her geschafft habe. Viel später als üblich, eigentlich ist es schon längst nicht mehr Mittag. Ich wundere mich, dass Mart sich deswegen nicht aufregt. Wir essen Gulasch und schweigen uns an.
»Dann brauchen wir dir also kein Taschengeld mehr zu geben«, sagt Mart schließlich. »Das bekommst du ja jetzt von deinem Vater.«
Ich wusste es. Wusste es wusste es wusste es. Dass ihm das als Erstes einfällt. Verdammt.
»Darüber haben wir noch gar nicht geredet«, sage ich.
Mart lacht auf. »Das sieht ihm ähnlich. Ein Kind in die Welt setzen kann er, aber zahlen darf ich.«
»Wir haben noch nicht darüber geredet«, wiederhole ich. »Werden wir schon noch tun.«
Meine Mutter verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich lange an. Ich spüre einen Stich in der Brust und sehe zur Seite. Ich könnte nicht sagen, was sie denkt.
»Mach das«, sagt sie nur.
Es ist nicht so, dass Mart mich nicht mag. Er mag mich und er mag meine Mutter und ich kann mir auch nicht vorstellen, wie wir ohne ihn gelebt hätten, schließlich hat er uns aus dem Übergangswohnheim rausgeholt.
Mart ist kein schlechter Mensch. Schlechte Menschen schlagen ihre Familie, sperren sie in den Keller oder verlassen sie dann, wenn sie am dringendsten gebraucht werden. So wie mein Vater. Dem man nur zugutehalten kann, dass er uns weder geschlagen noch in den Keller gesperrt hat, sondern sich damit begnügte, abzuhauen und uns im Regen stehen zu lassen.
Ich weiß auch nicht, ob mein Vater ein schlechter Mensch ist. Vielleicht hat er einfach nicht nachgedacht, was sein mehrjähriger Selbstfindungstrip nach Südostasien für meine Mutter bedeutete. Nämlich, dass ihr Geld für die Miete nicht mehr reichte.
Und irgendwann drückt keiner mehr ein Auge zu. Irgendwann stehen sie vor deiner Tür und delogieren dich. Wir hatten riesiges Glück, denn das Ganze hätte uns schließlich auch im Winter passieren können.
Was genau passiert ist, weiß ich nicht, weil meine Mutter nicht viel erzählt. Erinnern kann ich mich nicht, und Bilder gibt es auch keine. Von so etwas machst du keine Fotos. Du willst auch nie wieder mit demjenigen sprechen, der das Ganze verursacht hat. Verständlicherweise wollte sie nicht warten, bis er sich selbst gefunden hat. Stattdessen suchte sie sich einen anderen. Leider war das Mart.
Aber nein, Mart ist kein schlechter Mensch. Er hat uns ein Dach über dem Kopf gegeben, meiner Mutter Arbeit und mir eine Familie. Wir können uns nicht beklagen.
Aber es ist sein Dach, seine Arbeit, seine Familie. Wir können uns nicht beklagen. Keine Chance.
Er muss es nicht sagen, weil es von Anfang an klar war: Wenn wir uns falsch verhalten, sind wir draußen.
Meine Mutter hat ihr Leben daraufhin ausgerichtet, nicht mehr draußen zu sein.
Ich bin da anders.
Nach dem Essen laufe ich die Stufen hinauf in mein Zimmer. Stopfe frische Unterwäsche und ein paar T-Shirts in meinen Rucksack. Zu viel kann ich nicht tragen und Tom hat gesagt, dass ich bei ihm waschen kann.
Jetzt noch das Handtuch aus dem Badezimmer und wieder raus hier.
In der Krim
Die Englischschularbeit schreibe ich mit links, meine Wäsche wird bei Tom Turbo sauber und dann trocken und ab Mittwoch kann ich für einige Tage bei HulaHoop wohnen, die in Wirklichkeit Barbara und Vera heißen.
Ich bin ein bisschen nervös, als ich auf den Platz zusteuere, an dem die beiden wohnen. In diesem Teil Wiens war ich noch nie und die Adresse klingt fremd für einen wie mich, der Tannengassen und Kastanienalleen gewöhnt ist.
Ich sehe mich um. Eine Schule, ein kleiner Park mit Kinderspielplatz und die angrenzende Weinbergstraße führt im Frühling wohl ins Grüne. Es gibt nichts zu fürchten hier. Auch nicht die Tatsache, dass ich nicht weiß, wie ich mich in dieser WG verhalten soll, in die ich hier gleich für ein paar Tage einziehen werde. Denn Jeremy hat solche Sorgen nicht. Der streckt einfach die Hand aus und läutet an dem Klingelschild, an dem kein Name steht.
Vera holt mich unten ab und bietet mir an, meinen Rucksack hinaufzutragen.
»Das geht schon, thanks«, wehre ich ab.
Als ich die Wohnung betrete, muss ich niesen. Vera hält sich erschrocken die Hand vor den Mund. »Oh nein, wir haben dir gar nicht gesagt, dass wir Meerschweinchen haben. Bist du allergisch?« »I don’t think so. Ich muss wegen was anderem geniest haben.«
Vera atmet erleichtert auf. »Sorry. Also es steht eh auf unserem Profil, aber wir haben’s in der Nachricht an dich dann nicht nochmal erwähnt. Vergess ich immer. Wir hatten schon mal einen Allergiker hier, der musste sich dann was anderes suchen.«
»Deshalb sollte man sich die Profile auch gut durchlesen. Schließlich schreibt man ja nicht irgendwen an, sondern nur Leute, zu denen man auch irgendwie passt, oder?« Das habe ich in den FAQ gelesen. Dass man versuchen soll, den Leuten zu erklären, warum man ausgerechnet zu ihnen will. Dazu sollte man ziemlich genau wissen, was sie so über sich schreiben. Nicht, dass ich das gemacht habe.
Noch nie war ich so froh, bloß eine Allergie auf Hausstaub zu haben, die so leicht ist, dass ich sie meistens nur daran merke, dass sich mir im Liegen ein Nasenloch verlegt, wenn länger nicht gesaugt wurde. Der Staub ist es hier wohl auch, der mich noch einmal zum Niesen bringt. HulaHoop scheinen nicht die größten Putzfans zu sein.
Vera öffnet mir die Tür zu meinem Zimmer. »Wenn du unser Profil gelesen hast, dann weißt du ja eh, dass du im Meerschweinchenzimmer schläfst.
Ich nicke. »Of course weiß ich das«, lüge ich.
Ich gebe diesmal ganz ehrlich zu, schon länger in Wien zu sein, und erzähle keine München-Autostopp-Geschichte. Den Fehler mache ich nicht nochmal. Können ja alle sehen, bei wem ich davor gewohnt habe.
Es ist seltsam, das Zimmer mit Meerschweinchen zu teilen. Ständig raschelt es und manchmal ertönt leises Quieken. Nicht, dass es mich stört, ich habe einen ziemlich guten Schlaf. Aber komisch ist es schon. Was die wohl denken, wer ich bin? Ob die überhaupt denken? Keine Ahnung, wie das bei Meerschweinchen so ist.
Vera macht eine Ausbildung in einer Bank und Barbara jobbt gerade beim McDonald’s im McCafé. Spätabends bringt sie immer Kuchen und Donuts mit, die übrig geblieben sind.
»Greif zu«, sagt sie. »Morgen gibt es neue.«
Ich habe schon lange nicht mehr so viel Süßes auf einmal gegessen.
Es ist nicht schwer, Zeit zu finden, um unbemerkt meine Hausaufgaben zu machen. Vera ist untertags nie da und Barbara meistens auch schon weg, wenn ich heimkomme. Außerdem scheint es den beiden ziemlich egal zu sein, was ich mache. Sie haben nicht viele Fragen gestellt.
Jeden Abend lüfte ich lange, auch auf die Gefahr hin, dass die Meerschweinchen frieren. Ich stehe mit Jacke und Haube am offenen Fenster und sehe zum Kinderspielplatz, auf dem bei dieser Kälte keine Kinder spielen. Betrachte den Wohnungsschlüssel, der silbern glänzend in meiner Hand liegt. Kurz durchfährt mich die Angst, er könnte mir aus der Hand rutschen und aus dem Fenster fallen. Schnell stecke ich ihn in die Hosentasche.
Mit meiner Mutter habe ich ausgemacht, dass ich jeden Sonntag zum Essen komme. Ist okay für mich.