Als es etwa darum ging, den unsauberen Flirt mit dem Unendlichen zu klären, den Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und Isaac Newton (1643–1727), die Schöpfer der Differenzial- und Integralrechnung, bei deren Formulierung eingegangen waren, wurde ein erheblicher Aufwand getrieben, die unendlich kleinen Wesenheiten, die das Herzstück dieser Technik bilden, mit einer Definition wieder einzufangen, die durch und durch endlich und damit greifbar war. Die wesentliche Idee war, sich gar nicht erst auf den Umgang mit unendlich kleinen Größen einzulassen, sondern sich mit beliebig kleinen unteren Schranken zufriedenzugeben, von denen man zeigen konnte, dass sie dennoch größer waren als die »Differenziale«, wie man die verschwindend kleinen Einheiten in der Kurvendiskussion nannte. Begriffe wie Stetigkeit (Kontinuität) und Differenzierbarkeit wurden voneinander abgegrenzt und festgelegt. »Grenzwert« und »Konvergenz« verloren ihre Schwammigkeit. Um den Unterschied zu früher deutlich zu machen, benannte man das Fach in Analysis um, und alles schien sauber und ordentlich, jedenfalls für eine Weile.
Aus dem Bestreben um die Sicherung der Grundlagen mit Hilfe von Konstruktionen entstand eine ebenso starke Tendenz zur Abstraktion. Zwei früh gestorbene junge Leute, Niels Henrik Abel (1802–1829) und Évariste Galois (1811–1832), schufen die Grundlage für die moderne Algebra, indem sie bei der Lösung des sehr alten Problems, wie man ein regelmäßiges Fünfeck mit Zirkel und Lineal konstruierte, weniger auf die Form des Ergebnisses als auf die Struktur und Symmetrie des Problems blickten (und damit noch zwei andere, ebenso alte Probleme lösten: die Verdopplung des Würfels und die Dreiteilung des Winkels). Die Antwort, warum diese Konstruktion unmöglich war, gab Galois, kurz bevor er sich in einem Duell erschießen ließ, aber sie war derart kompliziert, dass es noch viele Jahre dauerte, bis sie überhaupt zur Kenntnis genommen wurde. Allerdings war sie so originell, dass sich die heute so genannte Gruppentheorie daraus entwickelte, einer jener ebenso wichtigen wie abstrakten Theoriebausteine, die für die moderne Mathematik (nicht nur die Algebra) unverzichtbar geworden sind (und deren Sinn und Stellung im Folgenden noch erklärt wird). Damit verfestigte sich in der Mathematik die Tendenz, Probleme weniger durch konkrete Konstruktionen als durch die logische Analyse abstrakter Strukturen zu lösen – und so für den Laien, dem das Abstrakte trocken und unfruchtbar erscheint, ungenießbar zu werden. Abstraktionen sind eigentlich Vereinfachungen, aber sie fühlen sich bei der ersten Begegnung oft nicht an wie eine Hilfe. Ihr Ziel ist es, große Klassen von Problemen auf ihren Wesenskern zu reduzieren. Durch die Einführung neuer Begriffe und Definitionen lässt sich ein höherer Standpunkt einnehmen, der tiefer blicken lässt und dadurch größere Zusammenhänge offenbart, die sich der bisherigen, naiveren Sichtweise entzogen.
Ein Feld, welches stark vom Streben nach Reinheit und Abstraktion im 19. Jahrhundert profitierte, war die Zahlentheorie. Hier können einfach klingende Fragen (nach den Eigenschaften der ganzen Zahlen) extrem unangenehme Antworten nach sich ziehen. So fällt etwa die Goldbachsche Vermutung unter die Zahlentheorie, wonach jede gerade Zahl, die größer als 2 ist, die Summe zweier Primzahlen ist (z. B. 8 = 5 + 3 oder 18 = 7 + 11 = 5 + 13). Diese These ist richtig für alle Zahlen bis 4 × 1018 (so weit haben es Computer heute geschafft, das Problem nachzurechnen), aber ein Beweis ist das nicht. Die Zahlentheoretiker tüfteln seit 1742 an einer Antwort.
Oder etwa der Große Satz von Fermat, wonach die Gleichung an + bn = cn für positive ganze Zahlen a, b, c, n, die größer als 2 sind, keine Lösung besitzt. Was also etwa für 32 + 42 = 52 geht, funktioniert nicht für höhere Exponenten. Warum? Pierre de Fermat (1607–1665), ein Jurist und Zahlentheoretiker, schrieb an den Rand eines Lehrbuches, er habe einen »wahrhaft wunderbaren Beweis« gefunden (demonstrationem mirabilem sane detexi), warum es keine Lösung geben könne, dieses Prachtstück könne er aber in der Kürze der Marginalie nicht ausführen. Damit gab er ein Rätsel auf, das erst 1994 gelöst werden konnte. Fermats Behauptung ist also richtig, aber der (heutige) Beweis ist erschütternd kompliziert – zu kompliziert für Fermats Möglichkeiten. Mit Fragen dieser Art beschäftigte man sich gerne im 19. Jahrhundert, und wer dies tat, hatte tatsächlich nur reine Mathematik im Kopf, denn Anwendungen waren hier nicht zu erwarten. Die Zahlentheorie ist das Gebiet der Mathematik, wo sie ganz bei sich ist und keine Rücksicht auf Planetenbewegungen oder sonstige praktische Dinge nehmen muss. Und wenn ihre Erkenntnisse doch einmal einen Anwender finden (wie heute in der Verschlüsselungstechnik), dann seufzen die Zahlentheoretiker und betonen, damit hätten sie nichts zu tun.
Die drei Königsberger Spaziergänger waren von genau diesem Aspekt besonders angezogen. Sie entwickelten eine gemeinsame Leidenschaft für die abstraktesten Teile ihrer Wissenschaft, neben der Zahlentheorie begeisterten sie sich auch noch für die Algebra (welche die Eigenschaften von Rechenoperationen untersucht). Sie waren fasziniert von den Möglichkeiten, die sich durch das Operieren in einer abstrakten Allgemeinheit ergaben, insbesondere von der Verbindung der verschiedenen Zweige der Mathematik durch die kreative Anwendung von Methoden in Bereichen, für die sie ursprünglich nicht bestimmt waren.
Methoden haben in der Mathematik etwa denselben Stellenwert wie die Fragen in der Philosophie: Sie sind das Ursprüngliche. Neue Methoden werden zum Zentrum neuer Zweige der Wissenschaft und treiben den Fortschritt voran. Sie geben den Begriffen erst ihren natürlichen Sinn und Ort, sie sind die eigentliche Idee. In einer immer abstrakter werdenden Gedankenkonstruktion werden die Methoden zum Wesentlichen, überwölben alle Anwendungsaspekte, die einst am Beginn der Überlegung gestanden haben mochten. Sie sind in der Mathematik das eigentliche Wagnis, wichtiger als die Sätze und Ergebnisse, die von ihnen nur abhängen. Neue Methoden sind aber anfangs immer umstritten, und der Weg vom kühnen »Ich darf das!« bis zur allgemeinen Akzeptanz und Anerkennung ist oft lang und steinig. An den alten Gewissheiten und den dazugehörigen Methoden zu rütteln ist jedenfalls ein Geschäft für junge Leute.
Die aufregendste methodische Neuerung zur Zeit der Königsberger Spaziergänge stammte zweifellos von Georg Cantor (1845–1918), dessen Name an vielen Ecken dieser Geschichte auftaucht, weil sein Thema die Unendlichkeit ist. Er bereicherte die Mathematik um einen ganz neuartigen Umgang mit dem Grenzenlosen und hinterließ dabei der Mengenlehre einen Sack voll Flöhe. Cantor war ein manisch-depressiver Professor aus Halle, dessen zweites Lebensthema (neben der Erforschung des Unendlichen) die Aufdeckung von Shakespeares wahrer Identität war. Beides waren Aufgaben, die leicht in den Wahnsinn führen konnten. Cantor kam mit Shakespeare nicht entscheidend weiter, aber für den Umgang mit dem Unendlichen schuf er Definitionen und Beweistechniken und errichtete damit ein Werk von bleibendem Einfluss und unbezweifelbarer Größe. Das Unendliche mit unseren irdischen Gehirnen zu umfassen, war (neben der Überwindung der »klassischen« Euklidischen Geometrie) das wohl ambitionierteste Projekt in der Mathematik des 19. Jahrhunderts, und es überrascht nicht, dass die daraus entstandene neue Mengenlehre in einen großen Streit über die Grundlagen der Mathematik insgesamt mündete.
Cantor führte verschiedene Grade der Unendlichkeit ein, eine Idee, die seine Lehrer an der Berliner Universität (insbesondere Leopold Kronecker (1823–1891)) erschauern ließ. Die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen 1, 2, 3, … ist eine Selbstverständlichkeit, denn es lässt sich keine größte natürliche Zahl benennen. Cantor zeigte nun, dass etwa die rationalen Zahlen (die sich als Brüche ausdrücken lassen, z. B. ½, ⅔, ¾,