Der Schlussstein von Kleins Programm sollte die Theorie der automorphen Funktionen sein, welche er zunächst in der ruhigen Selbstgewissheit seiner eigenen Genialität verfolgte – bis er plötzlich realisieren musste, dass der damals noch völlig unbekannte, abseits in der französischen Provinz arbeitende Henri Poincaré, noch jünger, noch genialer, dasselbe Ziel wie er verfolgte. Zwischen den beiden entstand eine Korrespondenz, die eigentlich ein Wettlauf um die Krone ihrer Wissenschaft war, bei dem Klein sich nur knapp zu einem Unentschieden retten konnte. Bei diesem Wettstreit hatte er viel Energie gelassen und die Erkenntnis gewonnen, dass er in Poincaré seinen Meister gefunden hatte. Das führte zu einem Zusammenbruch, wie ihn sehr viele Mathematiker irgendwann in ihrem Leben einmal haben. Äußerlich erholte Klein sich zwar, aber er fand nie wieder zur alten Höhe seiner Schaffenskraft zurück. Nach seiner Krise blieb er ein hervorragender Mathematiker, aber angesichts seiner nunmehr selbst erkannten Grenzen versuchte er seine Ziele künftig in Zusammenarbeit mit anderen zu erreichen. So wurde er zu einem Wissenschaftsorganisator, also einem Mann, der viel Zeit damit zubringt, bei Ministern und privaten Geldgebern um zusätzliche Mittel zu bitten, nach geeignetem Personal zur Verstärkung Ausschau zu halten und auf Fakultätssitzungen die feindlichen Kollegen gegeneinander auszuspielen. Er brachte nicht nur den fachlichen Überblick, sondern auch die charakterliche Kompetenz mit, zur grauen Eminenz seines Faches in Deutschland zu werden, und die Universität Göttingen war seine Burg. Klein wurde 1897 erstmals Präsident der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, vertrat die Universität ab 1908 im preußischen Herrenhaus, sein Ruhm verbreitete sich aber auch international. In den USA wurde er 1904 zum Mitglied der American Academy of Arts and Sciences gewählt.
Felix Klein war ein schwieriger Charakter mit ausgeprägtem Ehrgeiz und Machtinstinkt, dem man aber zugutehalten musste, dass er eine Schwäche für andere schwierige Charaktere hatte und eine hohe Streitkultur pflegte. Max Born, Doktorand bei Klein und später Mitschöpfer der Quantenmechanik, nannte seinen Lehrer ganz ohne Augenzwinkern den »Großen Felix«.40 Seine Neugierde auf Menschen und seine Offenheit für frische Bekanntschaften war für das Fach so ungewöhnlich groß, dass man ihn bei den strengen, pünktlichen und nicht mehr jungen Kollegen in Berlin für unseriös hielt. Ein »Faiseur« sei er, hieß es in den Protokollen zur Frage der Berufung Kleins in die Hauptstadt, ein »Blender«, der zwar gut vortrug (obwohl »im Feuilletonstil«), aber doch nur »naschte« und seine »Versprechungen nicht halte«, ohne rechte Substanz, ein Mann mit dem ein »Zusammenarbeiten hier unmöglich sei«.41
Der Tradition seit Gauss entsprach es, die Mathematik mit den mathematischen Wissenschaften (ihren praktischen Anwendungsgebieten) zu verschränken, und Klein hatte ein Auge darauf, dass in Göttingen auch bei den Physikern und Astronomen das passende Personal gefunden wurde. So entstand eine ganze Tafelrunde von mathematischen Köpfen der verschiedensten Orientierung, die rasch auf ganz Deutschland ausstrahlte und dem verknöcherten Berlin die Talente abspenstig machte. Dort war um 1890 zwar die größte Ansammlung an großen Namen zu finden (Kronecker, Kummer und Weierstraß), aber es handelte sich dabei um alt gewordene Männer, die ihre schwindende Energie in die Veranstaltung ihrer Werkausgaben investierten. Göttingen hatte dagegen, obwohl die Universität relativ jung war, eine große mathematische Tradition und, wichtiger, die Köpfe der Zukunft vorzuweisen.
Nach und nach gelang es dem »mathematischen Diktator von Göttingen« – auch dies ein Diktum Max Borns –, die größten Talente Deutschlands (und der USA) in seinem Imperium zu versammeln. Und so hatte er auch Hilberts Begabung und seine methodische wie fachliche Breite früh erkannt, sich zu dessen Mentor gemacht und ihn, sobald er gereift war, von Königsberg nach Göttingen gelockt. Und in Kleins Imperium entwickelte sich Hilberts Karriere weiterhin sehr erfreulich.
Hilbert schrieb zunächst mit Minkowski einen Bericht (eigentlich ein Buch) über algebraische Zahlentheorie,42 ein für Laien unzugängliches Thema, welches unter Kennern als besonders abstrakt und tief gilt und Hilbert endgültig in die erste Reihe der deutschen Mathematiker brachte. Für seinen Ruhm und seine Stellung in der Community war der »Zahlbericht« wichtig. Folgenreicher war aber ein kurz danach veröffentlichter Festschriftbeitrag über die Grundlagen der Geometrie,43 der eigentlich ein Reformprogramm für die ganze Mathematik war.
Beinahe jeder Mathematiker findet irgendwann seine Methoden und Themen, zu denen er immer wieder zurückkehrt, das scheint in der menschlichen Natur zu liegen. Manche Historiker verlieren sich in der Alltagsgeschichte und sehen in ihr den Schlüssel zu allem. Es gibt Fußballer, die einen bestimmten Laufweg die Strafraumkante entlang entwickeln, der kaum zu verteidigen ist. Und es gibt Geschäftsleute, die auf jedes Problem mit neuen Schulden reagieren. Die meisten Menschen gehen mit den unterschiedlichsten Problemen auf die immer gleiche Weise um – man kann von Lebenswerkzeugen sprechen, so wie man in anderem Zusammenhang von Lebensthemen sprechen kann.
Auch Hilbert hat einen solchen archimedischen Punkt und er lässt sich erstmals in seinen Grundlagen der Geometrie greifen. Es handelt sich um die axiomatische Methode, die er hier zum ersten Mal deutlich ausbuchstabiert und die von nun an zu einer Art Leitmotiv für seine ganze Arbeit wird. Sie ist die auf den Begriff gebrachte Essenz von Hilberts Lebenswerk.
Im Grunde entdeckt er lediglich eine 2000 Jahre alte Einsicht des berühmten Euklid von Syrakus wieder, die als mathematische Selbstverständlichkeit durchgehen kann: Euklid stellt bestimmte oberste Grundsätze auf, Axiome genannt, deren Wahrheit offensichtlich ist und die damit eigentlich ziemlich langweilig sind. So legt er etwa fest, dass »jede Linie in beide Richtungen unendlich verlängert werden kann« oder dass es »zu jedem gegebenen Punkt und Radius genau einen Kreis gibt«. Dazu kommen noch eine Handvoll Definitionen, was etwa Kongruenz ist oder ein Punkt oder eine Linie. Aus diesen Axiomen und Definitionen lässt sich alles weitere ableiten, all jene Sätze der Euklidischen Geometrie, die wir in der Schule in der 7. Klasse lernen.
Seit der Antike stand dieses Gebäude strahlend und unangetastet als ein Ideal von einfacher Klarheit. Die Methode wollte Hilbert beibehalten, bei der sich aus genau definierten Grundprinzipien die ganze Theorie (in diesem Fall: die Geometrie) systematisch, in endlichen, und auch für einen Kronecker nachvollziehbaren, Schritten entwickeln ließ, als endliches Spiel im unendlichen Universum der Mathematik. Inhaltlich musste sich allerdings einiges ändern. Schon Gauss und einige seiner Zeitgenossen fanden das System zu eng. Und als Hilbert es sich ansah, stellte er fest, dass es nicht nur eng war, sondern auch lückenhaft und anfällig für Widersprüche. Sein Anliegen in der Festschrift war es, an dieser Stelle aufzuräumen und ein System zu finden, in welchem sich die ganze Geometrie lückenlos und widerspruchsfrei ableiten ließ. Im Stil und Geist Euklids sollte am Ende die ganze Mathematik44 auf »ein einfaches und vollständiges System voneinander unabhängiger Axiome« zurückgeführt werden, um die »Tragweite der aus den einzelnen Axiomen zu ziehenden Folgerungen möglichst klar zu Tage« treten zu lassen.45
Also zerlegte er die Geometrie, wie einst schon Euklid, nur gewissenhafter, in ihre grundlegenden Bestandteile. Die Anfangsgründe goss er in saubere Definitionen – und ließ den Rest sich logisch entwickeln. Das war die axiomatische Methode, die zum Dreh- und Angelpunkt von Hilberts Denken wurde, zum Ausgangspunkt eines Denkens in Systemen und Strukturen, das sich keinen Theologievorwurf gefallen lassen musste.
Waren die Anfangsgründe erst einmal genannt, so müsste sich aus ihnen die Wissenschaft wie das Gehäuse einer Schnecke spiralförmig aus einem innersten Punkt konstruieren lassen, in immer größeren (aber endlichen) Windungen, zu einem vollständigen und abgeschlossenen Ganzen. Das Geschäft der Ableitung der mathematischen Sätze war somit wenig mehr als eine automatische Prozedur und könnte, wie später die Pioniere des Computerzeitalters folgerten, auch von einem Rechenapparat durchgeführt werden. Hilberts Traum einer lückenlos geführten Beweiskette für die Mathematik trug als Samen die Idee einer logischen Maschine in sich.
Die mathematische Welt war ernsthaft geschockt, als Hilbert wissen ließ, sie arbeite seit der Antike auf einer ungeklärten Grundlage. Sie hatte sich auf Euklids großen Namen verlassen und sich nie die Mühe gemacht, seine Arbeit im Detail zu durchleuchten. Entsprechend groß war die Aufmerksamkeit, die