Die Hilbert-Kurve ist eine Linie (mit sehr vielen Ecken), die eine zweidimensionale Fläche vollständig ausfüllt – und dadurch sozusagen ihre eigene Dimensionen hinter sich lässt.
Georg von Wallwitz
Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt
Wie ein Mathematiker das 20. Jahrhundert veränderte
3. Zwei Vögel, ein Frosch und der Erzengel des Fortschritts
5. Hilbert geht nach Göttingen
7. »Der Beginn der Kultur der Gegenwart«
10. Dies ist keine Badeanstalt
14. »Ein dämonischer Mangel an Plausibilität«
15. Demonstrationes Catholicae
Oft bekommt man zu hören: Das ist gut, doch es ist von gestern. Ich aber sage: Das Gestern ist noch nicht geboren. Es war noch nicht wirklich da.
Ossip Mandelstam, Das Wort und die Kultur (1921)
1. Vorwort
Es gibt einen im Grunde liebenswürdigen Menschenschlag, der beim Nachdenken über die Welt bereit ist, über die Intuition hinauszugehen und sich allein von der Form und der inneren Logik der Phänomene leiten zu lassen. Diese Menschen sind phantasievoll und mutig im Angesicht strenger Logik und selbstbewusst genug, um unvermeidliche Niederlagen nach kurzer Trauer einzugestehen – denn die Wahrheit der formalen Überlegung geht ihnen über alles. Sie erlangen selten den Status eines öffentlichen Intellektuellen, sind wenig ruhmsüchtig und meistens mit einem stillen Kämmerchen zufrieden, in welchem sie gleichwohl nichts Geringeres herstellen als den Schmierstoff der modernen Welt. Die Rede ist, natürlich, von den Mathematikern.
Wir alle wissen, wie groß der Einfluss ihrer Arbeit ist. Unter den Begriffen Big Data, Künstliche Intelligenz und Kryptographie haben mathematische Techniken das tägliche Leben einer Menschheit durchdrungen, die sich auch bei noch so guter Schulbildung oft wenig darunter vorstellen kann, was unter moderner Mathematik zu verstehen ist und wer sich so etwas ausdenkt. Der Draht der Mathematiker zu großen Teilen der gebildeten Schichten ist, trotz ihres stark gewachsenen Einflusses, weitgehend verlorengegangen.
Das war nicht immer so. Im 18. Jahrhundert konnte ein Philosoph wie Voltaire ein Buch über Newtons Physik schreiben und große Mathematiker wurden hoch gehandelt in den Salons von Paris, London und Berlin. Dichter wie Novalis machten sich ausgiebig Gedanken über Euklids Axiomatik und die Bedeutung der binomischen Formeln. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ein gebildeter Mensch könnte ohne Kenntnisse der neuesten Mathematik auskommen. Dann aber, um 1800, verlor sie ihre Selbstverständlichkeit, denn durch die furchterregend abstrakten Arbeiten von Carl Friedrich Gauss und einigen seiner Zeitgenossen büßte sie ihre Anschaulichkeit ein und wurde zu einem Fach, das unmöglich von Kavalieren nebenher, als amüsanter Zeitvertreib, betrieben werden konnte. Die Dilettanten in der Mathematik starben langsam aus. Heute ist sie nicht mehr Teil der Allgemeinbildung und es gibt sehr kultivierte Menschen, die ohne Furcht vor sozialer Ausgrenzung bekennen können, keinen blassen Schimmer von moderner Mathematik zu haben. Sie nehmen den Anspruch der Mathematik auf Unbedingtheit, Ewigkeit und Schönheit von Ferne interessiert zur Kenntnis, sehen als Zugang aber nur ein Nadelöhr, das Ihnen unpassierbar erscheint. An diese richtet sich das vorliegende Buch.
Der durchschnittliche Mathematiker weiß genau, dass die Allgemeinheit die konkreten Inhalte seiner Wissenschaft weder sucht noch findet. Sosehr er es sich auch wünschen mag, dem nächsten Passanten auf der Straße zu erklären, was es mit Topologie oder algebraischer Geometrie auf sich hat, er wird am Ende bestenfalls graue Erinnerungen an die Schulzeit wecken und keine reichhaltigen Ideen transportieren. Über Inhalte kann daher in diesem Buch nicht geredet werden, es hätte keinen Sinn. Ich kann nur versichern, dass es ein wunderschönes Erlebnis sein kann, logische Zusammenhänge zu begreifen, dass auch in jener Gedankenwelt jenseits der Intuition und der bunten Vorstellungen noch Leben ist. Allerdings lässt sich über die biographische Konstellation reden, über die Denkweise und die Aufgaben, aus der die Mathematik hervorgeht – und dann lässt sich umso besser darüber staunen, wie eine rein geistige Übung so tief in die Realität hineingreifen kann.
Wie tief dieser Eingriff ist, hat am stärksten die um 1900 geborene Generation erfahren. In ihrer Kindheit bezeichneten Glühbirnen und Dampfmaschinen den Stand der Technik. Fünfzig Jahre später gab es Autos, Flugzeuge, Atombomben, Computer, Radar, Radio und Fernsehen und die Welt erkannte sich kaum wieder. Die Physik hatte die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik hervorgebracht und es gab völlig neue Wissenschaftszweige wie die Spieltheorie und die Kybernetik. In diesem halben Jahrhundert hat sich die Welt so dramatisch gewandelt wie in fast keiner anderen Periode. Gegen diesen Sturm sind die Veränderungen, welche die westliche Welt heute erlebt, bestenfalls ein leises Ziehen.
Sucht man nach der einen Figur, welche häufiger als alle anderen an den Quellen dieser Umwälzung auftaucht, trifft man schnell auf David Hilbert in Göttingen, den einflussreichsten Mathematiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er war die graue Eminenz hinter den naturwissenschaftlichen Köpfen, die die Welt in dieser Zeit auf ihre Weise erschütterten. Bei niemandem trafen so viele der später entscheidenden Wissenschaftler aufeinander und auf keinem anderen Schreibtisch kreuzten sich so viele Verbindungslinien und Ideen, aus denen schließlich, ungeplant, eine neue Zeit entstand. Er gab der ganzen Entwicklung der Mathematik im 20. Jahrhundert die Richtung vor. Viel von dem, was wir heute davon im täglichen Leben sehen, wie etwa die Entwicklung des Computers, ist in der Auseinandersetzung mit seinen Ideen entstanden. Und es ist auch kein Zufall, dass viele der Physiker, die später