Zwei Damen, die mein vergebliches Bemühen schmunzelnd beobachteten, spendeten mir Trost. Es waren zwei Französinnen, die zu Fuß von Le Puy aus gestartet waren. Hier erfuhr ich zum ersten Mal die Faszination der Begegnungen am Jakobsweg: Egal, welcher Rasse, Sprache oder Nationalität man angehört, man fühlt sich als Pilger im tiefsten Miteinander verbunden, ja verwandt. Man spricht sich an, ganz so, als ob man sich schon lange kennen würde und geht eine Zeit lang miteinander, oft schweigend, oft redend. Man hilft einander und teilt alles, was man hat.
Die beiden Frauen rieten mir, ich solle bei dieser mörderischen Hitze meinen Weg unterbrechen und wie sie die Pilgerherberge aufsuchen. Doch mich zog es unaufhaltsam weiter zu den Pyrenäen, und so brach ich wieder auf. Immerhin wurde die Hitze durch den Fahrtwind etwas gemildert. Bis Rodez wollte ich es noch schaffen.
Als ich jedoch während einer Abfahrt bemerkte, dass die Straße auf der anderen Seite wieder steil anzusteigen begann, verließen mich der Mut und die Kraft. Ich beschloss, unten in der Niederung zu bleiben und hier ein Versteck für mein Zelt zu suchen.
Noch während ich es aufstellte, näherten sich mir aus dem Halbdunkel etwa zehn Kühe und interessierten sich brennend für den Aufbau. Glücklicherweise kamen sie wegen eines Zaunes nicht ganz an mein Zelt heran. Jedes Mal, wenn ich eine Plane ausbreitete oder etwas ausschüttelte, wichen sie verängstigt zurück, um sich nachher mit umso größerer Neugierde wieder zu nähern und den ungewohnten Besucher zu beschnuppern. Ich fand noch einen Tümpel mit Wasser, sodass ich mich andeutungsweise waschen konnte. Schließlich kroch ich mit etwas gemischten Gefühlen in mein Zelt und suchte den Schlaf.
NUN, AUF NACH SPANIEN!
11. Juli
Frühmorgens, beim ersten Blick ins Freie, war weit und breit kein Vieh mehr zu sehen. Die Wasserlache, in der ich mich gestern noch gewaschen hatte, sah im Strahl der aufgehenden Sonne nicht mehr sehr appetitlich aus, und so verzichtete ich diesmal auf meine Morgentoilette.
Nachdem alles seinen gewohnten Platz auf dem Rad gefunden hatte, nahm ich jene Steigung Richtung Rodez in Angriff, die meine gemarterten Muskeln am Vortag verweigert hatten.
Oben angekommen, ging es trotz ebener Landstraße nur sehr langsam vorwärts, denn ich hatte zum ersten Mal auf meiner Pilgerfahrt heftigen Gegenwind. Wenigstens war die Luft, die mir da entgegenblies, angesichts der brütenden Hitze sehr angenehm. Trotzdem war ich bald erschöpft und musste eine Pause einlegen.
Eine überdachte Bushaltestelle erwies sich als höchst willkommener Unterstand. Die Holzbank war ideal für eine Siesta. Doch an Schlaf war nicht zu denken.
Die Schuld lag diesmal nicht bei einem Fußheer von Ameisen, sondern bei einer Armada von Fliegen, die ununterbrochen auf meiner verschwitzten Haut starteten und landeten. Eine Zeit lang wehrte ich sie mit den Händen ab, aber bald resignierte ich und wechselte unfreiwillig ins Sitzen.
Als ich, um den verdienten Schlaf gebracht, etwas entnervt und blöde vor mich hinstarrte, entdeckte ich am Boden eine kleine Eidechse, die mich aus der Ferne begutachtete. Ihre Nervosität drückte sie mit ihrem rechten Vorderfuß aus, der sich in schneller Folge auf und ab bewegte. Ihr Wunsch, mir näher zu kommen, und ihre Bereitschaft zur Flucht hielten sich eine Zeit lang die Waage. Doch schließlich obsiegte ihre Neugierde, und sie näherte sich mir wie einst David dem Goliath, allerdings ohne Steinschleuder.
Ihr Mut wurde reich belohnt. Als früherer Besitzer von Vogelspinnen und Laubfröschen verstehe ich mich relativ gut aufs Fliegenfangen. Bald befand sich ein erstes Opfer zwischen meinen Fingern, und ich bot sie meiner kleinen Freundin an. Und siehe da! Mit Hochgenuss ward das Insekt verspeist. Und es blieb nicht bei der einen Fliege.
Das muss sich in Eidechsenkreisen herumgesprochen haben, denn in der Folge kamen von allen Seiten weitere Minisaurier zum Vorschein und „verlangten von Gott ihre Nahrung“, wie es im Psalm 104 heißt. Die vorher so lästigen Fliegen wurden bald zur Mangelware. Doch die erfolgreiche Jagd hatte meine Lebensgeister neu geweckt. So brach ich wieder auf, sehr zum Leidwesen der Eidechsensippe, deren „Tischlein deck dich“ ein abruptes Ende fand.
Am frühen Nachmittag näherte ich mich dem alten Städtchen Villefranche, einer mittelalterlichen Festung, die idyllisch an einem Fluss lag. Leider fand sich im Ort nur ein privater Campingplatz für bessere Kreise. Es gab dort sogar einen Babywickeltisch, den ich allerdings nicht in Anspruch nehmen musste.
Wenn ich schon mehr zu bezahlen hatte, wollte ich es wenigstens genießen. So blieb ich diesmal den ganzen Nachmittag beim Zelt. Es galt Karten zu schreiben, das Tagebuch nachzuführen, das Rad instand zu stellen, Proviant einzukaufen, wieder einmal richtig zu duschen und ein wenig zu faulenzen. Der Fluss war leider derart schmutzig, dass ich auf ein Bad verzichten musste.
Gegen Abend machte ich einen Besuch im Städtchen und gönnte mir bei einer alten Brücke mit wunderbarem Blick auf den mächtigen Wehrturm ein feines Fischgericht. Nachts jedoch erwachte ich schweißgebadet. Lag es am Essen? Hatte ich Fieber? Oder war ich einfach erschöpft? Zudem schmerzte ein Knie. Sollte ich noch einen weiteren Tag hier bleiben?
Im Schein der Taschenlampe studierte ich die Landkarte. Kurzerhand beschloss ich, am nächsten Tag nicht mehr so stark westwärts zu fahren wie bisher, sondern nach Süden abzuschwenken, um direkteren Kurs auf die Iberische Halbinsel zu nehmen.
Der Gedanke an das nahe Spanien musste mich in einen tiefen Schlaf gewiegt haben, denn ich war am Morgen wieder frisch und munter wie bei meiner Abreise.
EIN JÄMMERLICHER KAMINFEGER
12. Juli
Zum ersten Mal hatte ich auf meinem Jakobsweg einen ganzen Nachmittag lang geruht. Was für eine Wohltat! Verschwunden waren die Knieschmerzen, auch das Fieber war weg. Ich fühlte mich wieder fit und unternehmungslustig. Ohne größere Steigungen von einem leichten Rückenwind verwöhnt, durfte ich durch liebliche Landschaften fahren, vorbei an so wohlklingenden Ortsnamen wie z. B. „Molières“. Wer weiß, ob der 1622 in Paris geborene Komödiendichter Jean-Baptiste Poquelin sich bei der Wahl seines Künstlernamens „Molière“ nicht von diesem kleinen Dorf inspirieren ließ?
Früher einmal hatte ich am Gymnasium in Einsiedeln in einem Molièrestück mitgewirkt. Damals war ich noch ein kleiner Student, als der Schweizer Bundesrat Bonvin unserer Schule seine Aufwartung machte. Ihm zu Ehren führten wir auf Französisch einen Akt der Komödie „Der Bürger als Edelmann“ auf. Ich spielte eine Kammerzofe, die infolge eines Lachanfalls ohnmächtig werden sollte. Ich muss die Rolle sehr ernst genommen haben, denn beim Anblick meines gutbürgerlichen Hausherrn, der sich gekünstelt als Edelmann ausgab, steigerte sich mein Kichern derart, dass ich tatsächlich keine Luft mehr bekam und ohnmächtig wurde. Die Mitspieler mussten mir kräftig Luft zufächeln, bis ich endlich wieder zu mir kam. Unter dem Applaus der Zuschauer verließ ich benommen die Bühne.
Wohl jedes Dorf am Wege hätte eine kleine Überraschung bereitgehalten, wohl jede Kirche etwas zu erzählen gehabt. Aber ich schob kaum einen Halt ein. Es zog mich immer weiter Richtung Spanien.
Einmal allerdings, bald nach Molières, war von Weitem ein alter, hoher Kirchturm zu sehen. Direkt an der Straße gelegen, stand er allein und trutzig da. Das zu klein geratene Kirchenschiff schmiegte sich an seine Seite wie ein ängstlicher Hund an seinen Herrn. Das wollte ich mir näher ansehen.
Zu meiner Überraschung war das Gotteshaus offen und mit frischen Blumen geschmückt. Nach einer kurzen Andacht gönnte ich mir ein Picknick samt Siesta. Die Einladung des leeren Bänkchens vor der Kirche war zu verlockend.
Doch auch hier war der Schlaf nur von kurzer Dauer. Diesmal weckten mich weder Ameisen noch Fliegen, sondern das Herannahen einer Blasmusik. War es Traum, war es Wirklichkeit? Ich wollte es zunächst nicht wahrhaben.
Als