KAPITEL 7
Austern und 75 Cent Gage
Das physische Leben ist zweitaktig. Wir leben in einer Welt von auf und nieder, rückwärts und vorwärts, Tag und Nacht. Um auszuatmen, müssen wir zuerst einatmen. Es gibt in diesem Prozess keinen dritten Schritt.
Im Sommer 1934 kam Lenny auf die Idee, im einzigen Hotel Sharons, dem Singer’s Inn, eine Travestieparodie von Bizets Carmen zu organisieren. Riesige weiße Leintücher dienten als Vorhang, der Eintritt für das Spektakel im sommerlichen Refugium wohlhabender Bostoner Familien kostete 25 Cents. Man spielte fast fünfzig Dollar mit dieser neuartigen Carmen-Version für wohltätige Zwecke ein. Junge Männer der Nachbarschaft gaben die weiblichen Rollen, die Mädchen die männlichen Partien. Ein Klassenkamerad aus der Boston Latin School, der bereits bärtige, stämmige Dana Schnittken, spielte Micaela – mit einer blonden Perücke der väterlichen Hair Company. Den Don José gab Lennys Jugendliebe Beatrice Gordon. Der Stierkämpfer wurde von einer reiferen Dame aus einem der Nebenhäuser an der Lake Avenue verkörpert. Der Chor bestand aus Mädchen, die mit langen schwarzen Bärten als alte jüdische Männer verkleidet waren. Für die kleine Schwester Shirley verfasste der sechzehnjährige Regisseur Lenny einen Prolog in Versen, der die Handlung erklärte, die sonst niemand verstanden hätte. Shirley, der zwei Vorderzähne fehlten, lispelte brav ihren Text. Lenny selbst sang die Carmen mit roter Perücke, einer schwarzen Mantilla und verschiedensten Chiffonkleidern, durch die seine Unterwäsche durchschien. Wenn Lenny als Carmen auf der Bühne stand, spielte ein junges Mädchen Klavier, sonst begleitete er sein Spektakel selbst.
Wegen des großen Erfolgs überredete man den jungen Regisseur im nächsten Sommer wieder dazu, am Massapoag-See zu inszenieren: »Ich beabsichtige, der Öffentlichkeit eine weitere Bernstein’sche Operninszenierung zu bieten. Wir denken an Rigoletto oder eventuell an Faust«, gab Lenny bekannt. Doch es wurde nur eine romantische Operette in zwei Akten, eine Satire auf die viktorianische Gesellschaft, Der Mikado von Gilbert & Sullivan. Diesmal wurden die Geschlechter nicht vertauscht, Lenny spielte wieder die Hauptrolle, den Kaiser von Japan, seine inzwischen zwölfjährige Schwester Shirley brillierte als Yum-Yum. Jeder Akteur erhielt vom Regisseur Bernstein eine Gage von 75 Cent. »Dafür bekam man einen Hot Dog, einen fürstlichen Bananensplit, einen extrasahnigen Eisshake oder eine große Tüte Popcorn«, erinnerte sich Shirley.
Schon als Teenager bewies Leonard Bernstein künstlerisches Gespür und Organisationstalent. Seine Mutter erinnerte sich: »Sie hatten alle unglaublichen Spaß, Lenny musste nur da sein, dann folgten ihm alle.« Diese frühen Theatererfahrungen waren auch überaus wertvoll, als er später in Harvard zu komponieren begann und Regie führte. In seinem letzten Jahr an der High School beschrieb Leonard seine Zukunftspläne: »Auf der einen Seite steht – bereit zur Übernahme durch mich – ein ziemlich solides Geschäft, über ein Jahrzehnt alt und mit ausgezeichneten Entwicklungsmöglichkeiten. Andererseits habe ich nichts dafür übrig, sondern bin überaus an Musik interessiert. Es gibt keinen Augenblick, in dem ich nicht mein Klavierspiel jeder anderen Aufgabe vorziehe. Unerklärlicherweise bin ich nicht trotz, sondern wegen der Entmutigung zu Hause umso mehr von dem Wunsch erfüllt, Musiker zu werden.«
Bis 1935 besuchte Lenny die Boston Latin School, nach dem Abschluss mit Auszeichnung begann er an der Harvard University sein Studium. Ausschlaggebend für die Uni in Harvard war die ausgezeichnete Musikfakultät. Lenny konnte seinen Vater nach heftigen Diskussionen dazu überreden, ihn an der musikorientierten und teuren Universität studieren zu lassen. Zumindest würde sein Sohn nach den »leichten, musikalischen Amüsements« ein ernsthaftes Studium beginnen. Er erhielt endlich Klavierunterricht bei dem großen Heinrich Gebhard, der auch musikalische Standardwerke wie The Art of Pedaling verfasst hatte – Artur Rubinstein betonte immer wieder die Bedeutung des Pedaleinsatzes und nannte das Dämpferpedal einmal die »Seele des Klaviers«. Nebenbei studierte Bernstein in Harvard Philosophie, Ästhetik, Literatur- und Sprachwissenschaften.
Lennys Kompositionslehrer war einer der renommiertesten Komponisten und Lehrer seiner Generation, Walter Piston. Auch er schlug sich als junger Musiker in Tanzkapellen als Pianist durch und erregte mit seinen Geschichten von damals bei seinem Schüler Lenny sofortiges Interesse. Bei Piston erhielt der Student Bernstein die wesentlichen Grundlagen für seine späteren Kompositionen. Eines der Walter Piston-Hauptwerke, die Ballettsuite Der Gaukler, führte Bernstein aus Dankbarkeit viele Jahre nach dem Studium in Harvard immer wieder in seinen Konzerten auf.
1937, während des vorletzten Jahres an der Universität, lernte Leonard den Hohepriester der Musik, den Dirigenten Dimitri Mitropoulos, kennen, einen Musiker, der außergewöhnlich wichtig für Leonard Bernsteins Karriere werden sollte. Fast ein Vierteljahrhundert lang sollten die beiden befreundet sein. Als Gastdirigent des Symphonieorchesters kam Dimitri Mitropoulos nach Boston, bei einem Nachmittagsempfang der Harvard Helicon Society, der Griechisch-Studenten, wurde ihm der hochbegabte Student Bernstein vorgestellt. Am Abend davor hatte Leonard ein Konzert des berühmten griechischen Dirigenten gehört und »vor Begeisterung fast den Verstand verloren«.
Er möge ihm doch etwas vorspielen, meinte der Maestro beim Five o’Clock Tea. Ein Nocturne von Chopin beeindruckte ihn so sehr, dass er Lenny am nächsten Tag zu einer Orchesterprobe und danach zum Lunch in das Café Amalfi einlud. Mit einer aufreizenden Geste spießte Mitropoulos eine Auster auf seine Gabel und schob sie Lenny in den Mund. Während des offenen, warmherzig geführten Gespräches ermunterte Mitropoulos den genius boy, Dirigent zu werden. Dimitri Mitropoulos, eine imposante Figur mit stechend blauen Augen und einer Glatze, ein charismatischer Mensch, der fünf Sprachen beherrschte, beeindruckte Bernstein tief. Als junger Mann hatte er am Berg Athos Mönch werden wollen, war aber, nachdem man ihm in seiner Klause ein Instrument verweigert hatte, geflüchtet. Seine Religion wurde bald die Musik. Als leidenschaftlicher Orchesterleiter wollte er sein Publikum nie nur mit wohltuenden Klängen verwöhnen, sondern es aufrütteln und unter Strom setzen. Er war einer der höchstbezahlten Dirigenten der Welt, der immer wieder Konzertgagen jungen Musikern spendete, damit sie sich Instrumente leisten konnten.
Während der 1920er-Jahre war Dimitri Mitropoulos fünf Jahre lang in Berlin Assistent von Erich Kleiber an der Staatsoper Unter den Linden gewesen, 1930 erregte er bei einem Konzert mit den Berliner Philharmonikern Aufsehen: Er spielte den Solopart des Dritten Klavierkonzerts von Sergei Prokofjew und leitete dabei das Orchester vom Flügel aus – der erste moderne Musiker, der diese Doppelfunktion einnahm. Eine Kunst, die Leonard Bernstein später immer wieder praktizierte – besonders gerne bei Beethovens C-Dur-Klavierkonzert und der Rhapsody in Blue.
1946 wurde Dimitri Mitropoulos amerikanischer Staatsbürger. Bis 1949 war er Chefdirigent des Minneapolis Symphony Orchestra, zwei Jahre später wurde er als Nachfolger von Bruno Walter alleiniger Musikdirektor der New Yorker Philharmoniker. 1956 gab es für das Orchester und ihren Musikdirektor immer wieder negative Kritiken, von der Herald Tribune bis zur New York Times. Ende April holte deren Musikkritiker Howard Taubman zu einem Rundumschlag aus: Er kritisierte »stetigen Verlust an Spielkultur und Präzision, der Klang sei oft rau und hart, die Balance gerate immer wieder aus den Fugen.« Zu verantworten habe dies der Chef des Orchesters, dem die Hingabe für Werke von Mozart, Beethoven und Brahms fehle. Durch Taubmans Angriff wurde Dimitri Mitropoulos zum Feindbild, zur persona non grata der eingeschworenen New Yorker Klassikgemeinde. Wochenlang veröffentlichte die New York Times zynische, negative Leserbriefe. 1957 löste man Dimitri Mitropoulos in einer homophoben Kampagne als Chefdirigent ab. Die tonangebenden tough guys des Orchesters waren von diesem »Softie« befreit. Leonard Bernstein, den Mitropoulos zwanzig Jahre zuvor als genius boy bezeichnet hatte, wurde sein Nachfolger. Schon damals, während der ersten Begegnung, war der Neunzehnjährige fasziniert und bezeichnete später die Beziehung der beiden als die »denkwürdigste und verworrenste Zeit meines Lebens«. Er war geprägt von einer »tiefen und furchtbaren Zuneigung zu diesem